Seine guten oder unerwünschten leiblichen Zustände und mentalen Züge den unmittelbaren oder früheren menschlichen Vorfahren zuzuschreiben, ist offenbar eine uralte Annahme in der Geschichte des Menschengeschlechts. Aus Äußerungen des Propheten Hesekiel einige Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung ist ersichtlich, daß der niederdrückende Glaube, das Leben eines Menschen könne durch Sünden, die ein Vorfahre begangen hat, oder Krankheiten, die er gehabt hat, getrübt werden, keine stichhaltige geistige Grundlage hat.
In der anschaulichen sinnbildlichen Ausdrucksweise des Morgenlandes sagt uns Hesekiel, daß des Herrn Wort zu ihm geschah und sprach: „Was treibt ihr unter euch im Lande Israel dies Sprichwort und sprecht: ‚Die Väter haben Herlinge gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden‘?” Mit der Frage kam die göttliche Antwort: „So wahr als ich lebe, spricht der Herr Herr, solches Sprichwort soll nicht mehr unter euch gehen in Israel”.
Das Wort des Herrn, wie es Hesekiel gegeben wurde, lautet weiter: „Siehe, alle Seelen sind mein; des Vaters Seele ist sowohl mein als des Sohnes Seele. Welche Seele sündigt, die soll sterben. Wenn nun einer fromm ist, der recht und wohl tut ... und meine Gebote hält, daß er ernstlich darnach tue, ... der soll das Leben haben, spricht der Herr Herr”.
Ein Teil der Überschrift dieses 18. Kapitels des Propheten Hesekiel in einigen Ausgaben der autorisierten englischen Bibelübersetzung lautet: „Er zeigt, wie er mit einem gerechten Vater, dem bösen Sohn eines gerechten Vaters, dem gerechten Sohn eines bösen Vaters verfährt”. Das ganze Kapitel ist eine beachtenswerte Abhandlung über die göttliche Gerechtigkeit, die jeder verneint oder übersieht, der der grausamen Annahme zustimmt, daß auf ihm nicht nur seine eigenen Irrtümer lasten. Dem Propheten Hesekiel war es ganz klar, daß es ungerecht ist, für etwas anderes als seine eigenen Sünden zu leiden.
Der Ausdruck „Ahnenschatten”, den man oft hört, ist zutreffend. Das Leben manches Sterblichen ist schon dadurch überschattet worden, daß er im Denken irrige Bilder von Erfahrungen festhielt, die durch die Erkenntnis, was die Bibel hierüber lehrt, vollständig ausgerottet werden sollten. David vertrat den göttlichen Gesichtspunkt, als er sagte: „Der Herr ist mein Gut und mein Teil. ... Das Los ist mir gefallen aufs Liebliche; mir ist ein schön Erbteil geworden”. Dieses schöne oder göttliche Erbe können alle haben; aber der allgemeine Glaube an grundlose materielle Theorien ist so tief eingewurzelt, daß zum Beweis viel mehr erforderlich ist, als nur gelegentlich dem göttlichen Befehl zu gehorchen.
Mary Baker Eddy gründet sich vollständig auf des Meisters Gebot, nur Gott und kein menschliches Wesen als Vater anzuerkennen, wenn sie im Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 63) schreibt: „In der Wissenschaft ist der Mensch der Sprößling des Geistes. Das Schöne, das Gute und das Reine sind seine Ahnen”. Sie fügt hinzu: „Der Geist ist seine ursprüngliche und endgültige Quelle des Seins; Gott ist sein Vater und das Leben das Gesetz seines Seins”. Manchmal beginnen Eltern und Freunde, wenn ein Kind noch keinen Tag alt ist, zu bestimmen, welche Züge der Mutter und welche dem Vater ähnlich sind. Von dem heranwachsenden Kind wird oft behauptet, daß seine Charakterzüge in der einen oder der andern Seite der beiden Familien vorherrschen. Dem Kind würde eine große Befreiung zuteil werden, wenn alle schönen Züge seiner „ursprünglichen und endgültigen Quelle des Seins” zugeschrieben würden und erkannt würde, daß alle ihm vielleicht anhaftenden Fehler keine tatsächliche Quelle haben, und daher ausgerottet werden können.
Gehorsam gegen das vierte Gebot klärt, wenn es in seiner geistigen und seiner menschlichen Auslegung verstanden wird, die ganze Frage der Abstammung. Durch die Offenbarung der Wissenschaft der Heiligen Schrift, die unserer Zeit durch unsere von Gott geleitete Führerin zuteil wurde, verstehen wir, daß wir den Vater-Mutter Gott als die einzige Schöpferkraft, die einzige wahre Quelle unseres Seins — den einzig wirklichen Elterneinfluß— ehren sollen. Dies ist nicht nur ein Punkt, der einen Lehrsatz betrifft, den man glauben soll, sondern es ist ein wichtiger Hauptpunkt, der im Denken immer vorangestellt werden muß.
Kann nicht, vom Standpunkt der Vervollkommnungsmöglichkeit des Menschen betrachtet, gesagt werden, daß im Denken alles dem wirklichen Menschen Ungleiche von seinen menschlichen Eltern trennen, sie wahrhaft ehren hieße? Wir müssen diese Eltern, ob sie noch bei uns sind oder nicht, als individuelle Ideen Gottes sehen, ungeachtet der jeweiligen Einwendungen des sterblichen Gemüts, die vielleicht angenommen worden waren. Das vierte Gebot, das, wie Paulus sagt, „das erste Gebot ist, das Verheißung hat”, lautet: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt”. Dies ist eine bestimmte Verheißung, daß die menschliche Erdenwanderung sowohl verlängert als auch freudiger und nützlicher werden wird, wenn die sogenannten Vorfahren dadurch geehrt werden, daß man sie nur als Gottes vollkommene Ideen sieht, oder ihrer nur so gedenkt.
Der Christliche Wissenschafter, der ganz klar sieht, daß „das Schöne, das Gute und das Reine seine Ahnen sind”, wird es in seinen menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen nicht an Achtung und Liebe fehlen lassen. Er wird weder die gebietende und anmaßende Haltung, die Eltern unweise zuweilen sogar ihren erwachsenen Kindern gegenüber einnehmen, entschuldigen, noch sich gegen seine Kinder so unweise verhalten. Der Wissenschafter wird seine menschlichen Verpflichtungen freudig und liebevoll erfüllen; aber er wird durch ein verständnisvolles Ergründen seiner Lehrbücher das Vorübergehende dieser menschlichen Verwandtschaften und die göttliche, ewige Verwandtschaft zwischen Gott und allen Seinen Kindern immer mehr erkennen. Eltern und Kinder können die Freundschaft pflegen, die ein gegenseitiges Erweisen von Gefälligkeiten, Achtung, gemeinsame Interessen und Freude am Beisammensein in sich schließt; sie wird das Verlangen, willkürlich zu herrschen, oder sich so beherrschen zu lassen, verdrängen.
Mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, einen Hauptpunkt in ihrer Offenbarung mit einigen Worten klarzulegen, schreibt Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings” (S. 286, 287): „Man sollte verstehen, daß der Geist, Gott, der einzige Schöpfer ist: wir sollten diese Wahrheit des Seins erkennen und jeden Sinn von anderen Ansprüchen ausschließen. Bis diese unbedingte Wissenschaft des Seins in dem Sprößling des göttlichen Gemüts gesehen, verstanden und bewiesen wird, und der Mensch vollkommen ist, wie der Vater vollkommen ist, wird das menschliche Anstellen von Betrachtungen fortdauern und schließlich innehalten an dem geistigen Endpunkt: dem Verständnis, daß die Schöpfung der erhabenste göttliche Begriff ist”.
