Das Wort „Schatten” hat vielerlei Bedeutungen; aber wohl in den meisten Fällen denkt man dabei an Finsternis oder Verdunkelung. In der Bibel ist das Wort in dem Bericht über die Werke der Jünger, nachdem Jesus sie verlassen hatte, in einer ganz anderen Bedeutung gebraucht. In der Apostelgeschichte lesen wir zum Beispiel, daß Kranke auf die Straßen getragen wurden in der Hoffnung, daß, „wenn Petrus käme, sein Schatten ihrer etliche überschattete” und sie dadurch geheilt würden. Diese Stellungnahme zu Petrus und dem Glauben, den die Leute an seine Fähigkeit zu heilen hatten, gibt einen so ganz anderen Begriff von Schatten, und erinnert uns an Jesajas ermutigende Weissagung: „Ein jeglicher unter ihnen wird sein wie eine Zuflucht vor dem Wind und wie ein Schirm vor dem Platzregen, wie die Wasserbäche am dürren Ort, wie der Schatten eines großen Felsen im trockenen Lande.”
Wenn wir uns vorstellen, wie Petrus unter dem Volk einherging, wie er sich sehnte, wie sein geliebter Meister zu helfen und zu heilen, können wir uns nur denken, daß er den Christusgeist ausdrückte, der Jesus stets beseelte und ihn befähigte, zu beweisen, daß er sich der ihm innewohnenden Allgegenwart Gottes bewußt war. Er sagte zu den Leuten nicht nur: „Der Vater, der in mir wohnt, der tut die Werke”, sondern er versicherte sie auch, daß alle, die glauben und das Einssein mit Gott zugeben, dieselbe Erkenntnis erlangen und dieselben Werke tun können. Da Jesus den Christus bewies und erklärte, daß diese Macht das Erbe jedes Menschen ist, sollte in den Herzen aller, die auf seine Botschaft achtgeben, ein Erwachen stattfinden, diesen innewohnenden Geist zu beanspruchen und so den Glauben an ihre eigene, von Gott verliehene Fähigkeit zu erlangen, die Werke, die „mitfolgenden Zeichen”, zu tun. „Wenn du könntest glauben! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt”, sagte Jesus. Wie untrüglich doch Mrs. Eddy das tatsächliche Einssein des Menschen mit Gott verstand! In ihrem Gedicht „O sel’ge Weihnacht” sagt sie von dem Christus (Gedichte, S. 29):
„Du Gott-Idee, die du gekrönt vom Leben—
Das Kindlein hold auf Bethleh’ ms Flur,
Geheget und gepflegt, im Fleische sichtbar,
Dein Erdenschatten war es nur.”
Der Christus erleuchtete das Bewußtsein Jesu in solchem Maße, daß jede sterbliche, materielle Annahme—sogar der Tod—sich als unwirklich und machtlos erwies. Vertrauensvoll und freudig dürfen wir also alle Gott für den vollständigen Sieg danken, den Christus Jesus der Welt brachte.
Sind wir willens, den Glauben an ein sterbliches Selbst unterzuordnen, so daß die Macht Gottes uns benutzen und sich durch uns ausdrücken kann? Wenn wir dann die materiellen Sinne zum Schweigen bringen, wird uns sicher Macht gegeben und der heilende Christus im Bewußtsein derer, denen wir helfen, zum Vorschein kommen. Dadurch wird die Wahrheit des Seins augenscheinlich werden. Ein von Gott erfülltes Bewußtsein kennt nichts Böses, und sieht es natürlich nicht und bekundet es nicht. Könnte man doch die Menschen aufrütteln zur Erkenntnis des wahren Seins und der innewohnenden Macht, die es ihnen verleiht; zu dem dankbaren Anerkennen, daß „die Erde des Herrn ist und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnt”!
Wissen, daß Gott der Erhalter des Menschen und des Weltalls ist, fühlen, daß die Macht der immergegenwärtigen göttlichen Liebe das Denken und Leben Seiner Kinder durchdringt, heißt den Himmel auf Erden bringen; und dies erfüllt nur das Gesetz Gottes, das sich nicht abweisen läßt trotz der sterblichen Anstrengungen, die göttlich natürliche Ordnung zu durchkreuzen. Warum zögern wir, wenn es doch schließlich vollbracht werden muß? Warum suchen wir dem, was zuletzt doch kommen muß und wird, auszuweichen und es aufzuschieben? Jeder sollte dem Gebot Gottes nachkommen, sich nur an Ihn zu wenden; und da das Ganze nur eine Anhäufung des einzelnen ist, sich entschließen, Gottes Einheit in seinem Leben auszudrücken. Laßt uns also stündlich darauf achten, was für Schatten—ob des Segens oder des Verderbens—wir im Alltagsleben werfen!
Ein vor langer Zeit erschienener Christian Science Sentinel enthält den Aufsatz: „Der Heilige Schatten”. Es ist darin von einem namenlosen Mann erzählt, der überallhin, wohin er ging, Heilung und Befreiung brachte. Welke Blumen richteten sich auf, vertrocknete Pfade wurden grün, und Kranke wurden gesegnet und geheilt, wenn er bloß vorbeiging. Er sah nie zurück, sondern ging immer geradeaus und warf unwillkürlich Schatten des Trostes und der Heilung und verbreitete überall, wo er war, Tugend und Licht. Warum sollte man dies für unglaublich halten? Weilt Gott nicht bei den Menschen? Und ist Seine Schöpfung, so wie Er sie sieht, nicht vollkommen? Wenn wir lernen, das rein Persönliche aufzugeben und uns von Seinem Geist überschatten zu lassen, werden diejenigen, mit denen wir in Berührung kommen, es als einen von Frieden und Freiheit durchdrungenen Einfluß empfinden.
Als der Meister erklärte, daß wir die Werke tun können, die er tat, war es ihm mit dem, was er sagte, sicher ernst und er erwartete, daß wir sie tun. Daß Mrs. Eddy dieselbe Leistung erwartete, ist klar ausgedrückt in ihrem Brief an James Neal, den wir in Lyman P. Powells Lebensbeschreibung unserer Führerin finden. Man sollte ihn sorgfältig und oft lesen und sich vornehmen, den Anweisungen Folge zu leisten. Er wird uns allen sicher helfen, einen besseren Schatten zu werfen. Wir erlangen die Fähigkeit zu heilen dadurch, daß wir sie als einen Teil des wahren Erbes beanspruchen, das uns als den Söhnen und Töchtern Gottes zusteht. Laßt uns also mit erneutem Glauben und Mut unseres Weges gehen und innerlich erkennen, daß Gott mit uns geht! Dann können wir im Verkehr mit anderen nur anerkennen, daß Gott auch bei ihnen weilt, da Er das All ist. In Wirklichkeit besteht im einzelnen und in der Gesamtheit nichts als Gott und Seine Idee, Sein Ausdruck. Die göttliche Tätigkeit, die göttliche Macht, Gott—das Leben, die Liebe, die Wahrheit, die Intelligenz—wird, wenn die menschlichen Hindernisse beseitigt werden, beständig und in zunehmendem Maße offenbar werden.
Dies ist die Erlösung der Welt, die nach Gottes Verheißung, daß alle Menschen von ihren falschen Annahmen einer materiellen Schöpfung errettet werden sollen, unbedingt kommen muß. So können und so müssen wir das wahre und dauernde geistige Reich Gottes aufrichten helfen, das von Anfang an war, jetzt besteht und immer bestehen wird, und das die Menschen daher völlig und vollständig erkennen müssen.
Carlyle hat gesagt: „In unserem Sonnenschein ist immer ein dunkler Fleck—unser Schatten.” Laßt uns also jeden Tag mit einer sorgfältigen Selbstprüfung beginnen, um sicher zu sein, daß unsere Gedanken nur das ausdrücken, was wahr und recht ist! Hegen wir unparteiisch und freundlich Gedanken der Liebe im Umgang mit unseren Mitmenschen? Wünschen wir aufrichtig, jeden, mit dem wir in Berührung kommen, zu segnen? Wenn es der Fall ist, wird dieser liebevolle Wunsch gefühlt werden, und die Wärme und Innigkeit, die er ausstrahlt, wird durch alle Traurigkeit und alle Not hindurchdringen, so daß wir ganz natürlich und freudig die Schatten der Eigenschaften Gottes werfen. Das Bewußtsein der Beschützung und des Wohlwollens wird sich immer mehr verbreiten und die ängstlichen und beunruhigten Gedanken, die in einem unklaren Denken vielleicht zu keimen begonnen haben, abwenden und vernichten.
Eine Christliche Wissenschafterin wollte eines Nachmittags bei einem Buchhändler im Bahnhof noch etwas kaufen. Sie hatte mit dem Verkäufer immer ein paar freundliche Worte gewechselt; aber an diesem Tage bemerkte sie einen Ausdruck von Leiden und Furcht in seinen Zügen. Als sie neben ihm stand, sagte er tief dankbar: „Ich sah Sie und hoffte, Sie würden herüberkommen”; und als sie ihn nach dem Grund fragte, antwortete er: „Ich fühle mich sehr elend und ich wußte, wenn ich es Ihnen sagte, daß Sie sagen würden, es tue Ihnen leid, und das hilft.” Demütig dankbar sprach sie mit ihm, und er wurde in der Folge geheilt.
Wenn wir wachsam und bereit sind, den Mantel des Erbarmens um jeden zu werfen, der in seinen Falten Schutz sucht, erlangen wir ein neues Gefühl geistiger Stärke und Lebenskraft, um unsere segenbringende Bestimmung zu erfüllen. Wir beginnen tatsächlich froh zu erwarten, daß sich bei unserem Kommen die Züge erhellen und, da wir die Menschenbrüderschaft als eine ewige Tatsache anerkennen, daß wir und alle, die zu uns kommen, gegenseitig ein neues Kameradschaftsgefühl erleben. Man braucht den unendlichen Vater-Mutter, die Liebe, um kein höheres Geschenk als darum zu bitten, daß Er Gebrauch von uns machen möge, so daß von uns gesagt werden kann, daß wir heilige Schatten werfen (Einflüsse sind), die die müden Erdenkinder schützen, ermutigen und beruhigen, und Glauben, Zuversicht und dauernden Frieden bringen. In „Rückblick und Einblick” (S. 95) finden wir die Worte von A. E. Hamilton angeführt:
„Müht euch um Gottes Kraft
Zu rechtem Trost,
Daß ihr gesegnet seid—
Von Gott bestimmt
Zu einem Sein, dem Mitgefühl geweiht.
Leicht unter Kummers drückendem Gewicht
Ein Herz zerbricht,
Und Tröstende mit Christi sanfter Hand
Braucht jedes Land.”
