Einen Christlichen Wissenschafter beunruhigte eine Schwierigkeit, die der geistigen Wahrheit, die er in der Christlichen Wissenschaft gelernt hatte: daß der vollkommene Gott einen vollkommenen Menschen erschafft, nicht leicht weichen wollte. Als er ernstlich betete, Gott möge ihm zeigen, was er geistig zu lernen hatte, fühlte er sich veranlaßt, sich sorgfältig in das Gebet des Herrn (Matth. 6, 9–13) zu vertiefen. Er sah, daß Christus Jesus in diesem Gebet damit begann, daß er sich die Vollkommenheit Gottes vergegenwärtigte: „Unser Vater in dem Himmel! Dein Name werde geheiligt.“ In Erkenntnis dessen, daß ein vollkommener Gott ein vollkommenes Weltall erschaffen und erhalten muß, erklärte der Wegweiser als nächstes: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“
Dann kam der Meister auf „uns“, den Menschen, zu sprechen: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Der Wissenschafter erwachte zu der Erkenntnis, daß er, anstatt dem Muster von Jesu Gebet zu folgen, die Vollkommenheit Gottes und die Vollkommenheit des einzelnen Menschen erklärt, aber versäumt hatte, die Wahrheit über die Menschen insgesamt, über Gottes volle Kundwerdung, die alle Ideen Gottes in sich schließt, zu wissen. Er beschloß, genau nach dem Vorbild im Gebet des Herrn vorzugehen: eine Zeitlang über Gottes Art nachzudenken, dann einige Zeit dem Erfassen des wahren Weltalls, des Reiches Gottes, zu widmen, und erst dann an den einzelnen zu denken.
Zur Betrachtung der Art Gottes schlug der Wissenschafter Seite 465 im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Mary Baker Eddy auf und befaßte sich eingehend damit, wie dort der Begriff Gottheit erklärt ist: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit und Liebe.“ Er bemühte sich mehr denn je, diese sieben bestimmten Ausdrücke für unsern himmlischen Vater, das höchste und unendliche Sein, in seinem Denken zu heiligen und eine tiefere Erkenntnis der Bedeutung jedes einzelnen Ausdrucks zu erlangen.
Er war noch nicht weit darin gekommen, als das Selbst sich in sein Denken einzuschleichen suchte unter dem Vorwand, daß er jetzt versuchen sollte, zu sehen, daß er selber die geistigen Eigenschaften Gottes widerspiegelte. Er widerlegte dies nachdrücklich und erklärte: „Es ist mein göttliches Recht, ununterbrochen über Gott nachzudenken.“ Dreimal mußte er diesen Sinn des Selbst, der sich geltend machen wollte, zum Schweigen bringen, um unsern himmlischen Vater vollständig verehren zu können.
Dann widmete der Wissenschafter einige Zeit dem Nachdenken über das eine und einzige vollkommene Weltall, das Gott erschafft und erhält. Er sah, daß die Schöpfung als die vollkommene Widerspiegelung Gottes keine Gott unähnliche Eigenschaft haben kann. Sie muß also eine Welt der Liebe sein, in der es keinen Haß, keinen Groll und keine Rache gibt. Auf Seite 340 in Wissenschaft und Gesundheit lesen wir: „Die göttliche Liebe ist unendlich. Daher ist alles, was wirklich existiert, in und von Gott und offenbart Seine Liebe.“
Nachdem er durch den geistigen Sinn das Weltall der Liebe einigermaßen wahrgenommen hatte, sah er, daß dieses ewige Weltall keine Fehler, keine Unvollkommenheiten oder Uneinigkeit in sich schließt; denn Gottes Schöpfung bekundet nur das Wesen der Wahrheit. Der Wissenschafter drückte für jeden Beweis dieser Tatsache, den er je gesehen hatte, tiefe Dankbarkeit aus. Nun enthüllte sich ihm, daß die Schöpfung, da sie doch nicht materiell, sondern der Ausdruck der Seele ist, Schönheit, Einmütigkeit und Freiheit widerspiegelt. Er sah ferner, daß in dem geistigen Weltall, dem einzigen Weltall, nicht Wirrnis, Zufall und Unklarheit herrschen, sondern daß es das Prinzip, Gesetz und Ordnung ausdrückt.
Dann machte er sich klar, daß Gottes Weltall die Offenbarwerdung des göttlichen Lebens ist, worin es nicht die geringste Einflüsterung eines Todes gibt. Er erkannte, daß in diesem göttlichen Weltall niemand und nichts je gestorben war; denn die Offenbarwerdung Gottes drückt das Leben aus. Wie unverkennbar es war, daß Gottes Welt nicht unwissend oder einfältig, sondern die Schöpfung der Intelligenz und der Weisheit ist! Da Gott der Geist, das unendliche Gemüt ist, muß Seine Schöpfung folglich unbedingt geistig und unbegrenzt sein.
Als der Wissenschafter schließlich an sein eigenes wahres Selbst dachte, entdeckte er, daß er frei war. Da die ganze Bekundung Gottes vollkommen ist, so folgt daraus vernunftgemäß, daß jede einzelne Bekundung unumgänglich an der Art des Ganzen teilnehmen muß.
Viele versuchen heute, trotz der unvollkommenen Welt, in der sie leben, harmonisch, gesund, frei und vollkommen zu sein. Dies ist nicht möglich, wenn sie den Begriff von einem der Sünde, der Krankheit und dem Tode unterworfenen unvollkommenen materiellen Weltall als Wirklichkeit betrachten. Es wäre etwa so schwierig, wie wenn man versuchte, einen guten Apfel in einem Korb fauliger Äpfel aufzubewahren. Aber es ist nicht schwierig, einen guten Apfel in einem Korb guter Äpfel aufzubewahren. Es ist für den Menschen nicht schwer, in Gottes Himmelreich vollkommen zu sein, weil der Mensch ewig Gott, das Gute, ausdrückt. Wir alle müssen uns einen höheren Begriff vom Weltall bilden, bis wir es sehen, wie es wirklich ist — von Gott erschaffen, unumschränkt und vollkommen. Dann verstehen wir, daß wir, jeder für sich, in Wahrheit vollkommen, frei und unversehrt sind, nicht trotz einer sogenannten materiellen Annahme, sondern weil Gott, das Gute, überall gegenwärtig ist.
Wenn wir versuchen, vollkommen zu sein trotz der Annahmen falscher Theologie, der Arzneikunde oder verkehrten Handelns, die sich überall um uns her geltend machen mögen, können wir aufrichtig bestrebt sein, persönlich Vollkommenheit zu bekunden; aber es wird uns nicht gelingen, bis wir die Lüge einer unvollkommenen Welt rings um uns her verneinen, sie umkehren, und anerkennen, daß die Vollkommenheit Gottes und Seines geistigen Weltalls und des Menschen die Wirklichkeit ist. Wir müssen uns die Wahrheit vergegenwärtigen, die unsere Führerin uns auf Seite 473 im Lehrbuch gegeben hat: „Gott ist allüberall, und nichts neben Ihm ist gegenwärtig oder hat Macht.“ Wenn wir versuchen, trotz des falschen Denkens eines Angehörigen, eines Nachbarn oder eines andern Kirchenmitglieds gute Christliche Wissenschafter zu sein, machen wir eine Wirklichkeit aus der Disharmonie, weil wir den Menschen als einen Sterblichen, also als unvollkommen sehen, anstatt uns klar zu machen, daß der Mensch unsterblich, harmonisch und vollkommen ist.
Versuchen, trotz dieser sogenannten schlimmen Welt, in der wir uns befinden, vollkommen zu sein, ist gerade, wie wenn man sich bemühte, sich an seinen eigenen Stiefelstrippen aus dem Schlamm herauszuheben. Man mag zuweilen denken, man mache Fortschritt; aber solang man glaubt, daß Leben und Intelligenz in der Materie seien, fühlt man beständig, wie einen das tote Gewicht des Materialismus abwärts zieht. Wie wichtig es ist, uns beim Behandeln verständnisvoll zu vergegenwärtigen, daß es tatsächlich keine Beschwerung durch Materialität und Irrtum gibt, weil im Weltall des Geistes und der Wahrheit die Eingebung und Erleuchtung der geistigen Wirklichkeit herrschen! Es gibt tatsächlich kein Übel, aus dem sich der Mensch herauszuheben hat, da Gott das All in allem ist und den Menschen in sich schließt. Wir entdecken infolgedessen, daß wir als Gottes Idee unsere gottgegebene Herrschaft über das Materielle beweisen können, und dadurch helfen wir den Irrtumstraum auch in der Erfahrung anderer vernichten.
Falsche Theologie lehrt, daß wir uns bemühen sollen, in einer bösen Welt gut zu sein; daß wir aber nicht hoffen können, das Ziel, Vollkommenheit, zu erreichen. Jesus sagte jedoch (Matth. 5, 48): „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Er wußte, daß wir des Menschen Vollkommenheit hier und jetzt beweisen können, weil das Himmelreich, das, wie er lehrte, nahe herbeigekommen ist, in Wahrheit jedes Menschen ewiges Heim ist.
Manche mögen versuchen, trotz einer Schwierigkeit vollkommen zu sein, und sich wundern, warum die Schwierigkeit nicht verschwindet. Machen sie durch ein solches Denken nicht eine Wirklichkeit aus der Materie? Wer erkennt, daß sein wahres Selbst nicht trotz eines Umstandes, sondern auf Grund von Gottes Allheit, in der es keine Schwierigkeit gibt, vollkommen ist, wird schneller beweisen, daß die sogenannte Schwierigkeit wesenlos ist.
Christliche Wissenschafter sollten sich vor jener Standhaftigkeit hüten, die dem Wesen nach erklärt: Es ist Irrtum hier, aber ich werde standhalten oder trotzdem gewinnen. Wahrer Mut, der die Unendlichkeit Gottes, des Guten, begreift, sagt: Es gibt in Wirklichkeit kein Übel, dem man standzuhalten oder über das man zu siegen hat, kein Übel, das man als ein zu überwindendes Hindernis zu betrachten hat, oder bei dem man zu denken braucht: „trotzdem“; denn Gott ist ewig das All in allem. Selbstsucht prahlt: Ich werde trotz der Unzulänglichkeiten anderer vollkommen sein. Demut erkennt: Ich bin vollkommen, weil Vollkommenheit ewig der Zustand jedes Kindes Gottes, aller Seiner Kinder, ist. Wahre Demut heilt immer.
Die Welt braucht wahre Christen, die ihre geistige Tatkraft der Aufgabe widmen, nicht nur den Begriff vom geistigen Menschen, sondern auch den Begriff vom geistigen Weltall, in dem der Mensch lebt, im Bewußtsein zu erhöhen. Wenn wir täglich tief aufrichtig beten, um die Vollkommenheit Gottes, Seines Weltalls und Seines Menschen zu erkennen, tragen wir dazu bei, die Einflüsterung von Kriegen und Kriegsgerüchten zum Schweigen zu bringen, und wir machen es dadurch leichter, den vollkommenen Menschen der Schöpfung Gottes zu sehen, zu verstehen und zu beweisen.