Ein Vergrößerungsglas ist für einen achtjährigen Knaben etwas Wunderbares. Timmie dachte, er habe noch nie etwas so Herrliches besessen wie das dicke runde Glas, das alles größer erscheinen ließ. Er trug es in der Tasche und nahm es überallhin mit. Er nahm es sogar in die christlich-wissenschaftliche Sonntagsschule mit.
Als die Lehrerin kam, steckten alle in der kleinen Gruppe die Köpfe zusammen über dem Glas. Timmie hatte ein Blütenblättchen von einer Rose mitgebracht, und die Knaben meinten, sie hätten noch nie etwas Schöneres gesehen als die zarten Farben und die Rippchen, die sie in dem Blättchen sehen konnten, wenn sie es durch die Linse betrachteten.
Die Lehrerin sagte zu Timmie, daß er das Vergrößerungsglas in die Tasche stecken müsse, sobald die Glocke läute; aber bis zum Beginn des Unterrichts erlaubte sie den Knaben, alles mögliche damit zu versuchen. Timmie wies darauf hin, daß man es in der rechten Entfernung vom Auge und dem Gegenstand halten muß, um das beste Ergebnis zu erzielen. Hans versuchte, es so weit von sich wegzuhalten, wie er nur konnte, um zu sehen, was sich dann zeigen würde.
„Jetzt ist alles umgekehrt“, rief er aus. In dem Augenblick wurde das Zeichen zum Beginn der Sonntagsschule gegeben. Als die Klasse aber wieder beisammen war, kam die Lehrerin noch einmal auf das Vergrößerungsglas zu sprechen, das jetzt in die Tasche gesteckt war.
„Kinder“, sagte sie, „ihr habt gesehen, daß wir das Vergrößerungsglas nahe halten mußten, um ein wahres Bild zu bekommen. Ebenso verhält es sich mit der Christlichen Wissenschaft. Laßt uns sehen, was uns Mary Baker Eddy darüber sagt. Hans, schlage bitte dein Lehrbuch ‚Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift‘, Seite 301, auf und lies von Zeile 27 an bis zum Ende des Abschnitts.“
Sehr sorgfältig und langsam und unterstützt von der Lehrerin bei den langen Wörtern las Hans den Satz: „Täuschung, Sünde, Krankheit und Tod entstehen aus dem falschen Zeugnis des materiellen Sinnes, der von einem vermeintlichen Standpunkt außerhalb der Brennweite des unendlichen Geistes aus ein umgekehrtes Bild des Gemüts und der Substanz darstellt, in welchem das Unterste zu oberst gekehrt ist.“
„Die Brennweite ist die nötige Entfernung der Linse mit ihrem widergespiegelten Bild von eurem Auge, um das Bild klar und scharf sehen zu können“, erklärte die Lehrerin. „Genau so gibt uns, wenn wir glauben, wir seien ‚außerhalb der Brennweite des unendlichen Geistes‘, das sterbliche Gemüt ein falsches Bild. Als ihr durch das Glas das Klavier in der Ecke ansahet, habt ihr es umgekehrt gesehen, nicht wahr?“
Timmie warf schnell ein: „Es ist nicht wirklich umgekehrt“. „Es sieht nur so aus,“ erklärte er.
Die Lehrerin nickte zustimmend. „Du hast recht, Timmie. Habt ihr etwas mit dem Klavier getan, damit es wieder recht dasteht? Nein, es stand immer so da. Es war nur die Art, wie ihr durch das Glas gesehen habt, die es umgekehrt erscheinen ließ. Und wißt ihr noch, wie groß das Blumenblatt von der Rose war, und wie klar man seine Schönheit durch die Linse sehen konnte? Nun paßt gut auf.“ Dann führte sie Mrs. Eddys Erklärung in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901 an (S. 12): „ ‚Die Linse Wissenschaft vergrößert dem menschlichen Blick die göttliche Macht, und dann sehen wir die Allheit des Geistes und dadurch das Nichts der Materie.‘ Durch was sollten wir also uns selber und andere betrachten? Durch den materiellen Sinn oder durch ‚die Linse Wissenschaft‘?“
Alle gaben zu, daß sie „die Linse Wissenschaft“ benützen sollten. Dann hob Timmie seine Hand in die Höhe. „Vor einigen Wochen lasen wir doch in der Bibel: ‚Meine Seele lobpreist den Herrn‘. Ich weiß es noch so genau, weil ich mich in jener Woche schlimm in die Hand schnitt, und als ich zu meiner Mutter ging, daß sie nachsehen solle, wie tief der Schnitt sei, sagte sie: ‚Wir wollen nicht etwas daraus machen, indem wir es ansehen.‘ Dann gingen wir in ihr Zimmer und lasen die Lektionspredigt, und als wir an die Stelle kamen vom Lobpreisen des Herrn, sagte sie, ich soll anfangen, das zu tun. Und ehe ich mich versah, hatte ich keine Schnittwunde mehr, und es ist nicht einmal eine Narbe geblieben!“
Die Lehrerin sah ihn freundlich an und sagte: „Als du durch ‚die Linse Wissenschaft‘ geschaut hast, hast du natürlich keine Schnittwunde gehabt; denn das hat dir geholfen, an Stelle ‚des falschen Zeugnisses des materiellen Sinnes‘ ‚die Allheit des Geistes‘ und ‚das Nichts der Materie‘ zu sehen.“
Dann sagte einer der Knaben: „Deshalb nehmen die Christlichen Wissenschafter auch keine Arznei oder etwas derartiges, nicht wahr? Wir brauchen nichts an der Materie zu tun, um gesund zu sein. Wir brauchen nur durch die Wissenschaft die Wahrheit über uns selber zu sehen; dann finden wir, daß gar nichts verkehrt ist. Wenn wir unsere Wissenschaft anwenden, ist alles in Ordnung!“
Dann wurde in der Klasse die festgesetzte Lektion besprochen. Am Schluß des Unterrichts sagte die Lehrerin zu der Klasse: „Kinder, laßt uns in dieser Woche darauf achten, daß wir nicht den Irrtum vergrößern, sondern Gott verherrlichen und preisen. Wenn alles verkehrt scheinen will, wollen wir daran denken, daß wir die Dinge schnell durch ‚die Linse Wissenschaft‘ betrachten, weil uns das hilft, sie zu sehen, wie sie wirklich sind!“
