Wenn die Gegenwart öde und leer erscheint; wenn es scheint, als ob ringsum nur Steine — Ungewißheit, Furcht, Zweifel und Reue — seien; als ob nichts eine ermutigende Aussicht biete, dann mögen wir in Beth-El sein, an jenem Ort, an den Jakob bei Sonnenuntergang kam, wo er, das Haupt auf einem Stein ruhend, sich schlafen legte. Zweifellos war Jakob innerlich beunruhigt, als er auf seinem harten Kissen ruhte; denn hinter ihm lagen Erlebnisse, die er bereute und die ihm große Furcht vor den Folgen einflößten. Er schlief indessen darüber ein und träumte.
Der Verfasser des 1. Buchs Mose berichtet diesen Traum und die Wirkung, die er auf Jakob hatte. Wir lesen (28, 12. 13. 15): „Und siehe, eine Leiter stand auf der Erde, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder; und der Herr stand obendarauf und sprach: Ich bin der Herr, Abrahams, deines Vaters, Gott und Isaaks Gott.. .. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hin ziehst,. .. denn ich will dich nicht lassen.“ Als dann ein neuer Tag anbrach und Jakob aus seinem Schlaf erwachte, war sein geistiger Blick so klar, daß er sagte (Vers 16, 17): „Gewiß ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht.. .. Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Jakob erhaschte also einen Schimmer der Übereinstimmung des Geistigen und des Menschlichen, und die durch dieses Erlebnis erlangte geistige Erleuchtung beeinflußte sein ganzes ferneres Leben.
Demütig nannte er die Stätte seiner Erkenntnis „Beth-El“ oder „Gottes Haus“, und es wird uns gesagt, daß er den Stein nahm, auf dem er geruht hatte, und Öl darauf goß und gelobte (Vers 20–22): „So Gott wird mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der Herr mein Gott sein; und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Mal, soll ein Gotteshaus werden.“
Vielleicht fragt jemand: Wo können wir Beth-El im menschlichen Leben finden? Ruskin sagt uns, daß es „irgendein Ort ist, wo Gott die Leiter herabläßt.“ Dann weist er darauf hin, daß man nur wissen kann, wo der Ort sein wird, wenn man immer für ihn bereit ist; denn, fährt er fort, wir können nicht Gott leiten, sondern wir müssen, damit die göttliche Intelligenz und Weisheit uns leite, offenbar jederzeit für diese Leitung bereit sein.
Weil Gott immer gegenwärtig ist, muß auch die Leiter des Lebens immer gegenwärtig sein. Wir können in der Tat Mut schöpfen aus Mary Baker Eddys Worten in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 (S. 10): „Wenn das menschliche Gemüt über sich selber hinaus fortschreitet dem Göttlichen entgegen, unterjocht es den Körper, siegt es über die Materie, tut es Schritte, die über sie hinaus und aufwärts führen. Dieses Aufwärtsstreben der Menschheit wird schließlich soweit reichen wie Jakobs Erschauen und sich vom Sinn zur Seele, von der Erde zum Himmel erheben.“
Wir machen Fortschritt, wenn wir bei Gott Hilfe und Ermutigung suchen, ob wir dann bestrebt sind, von Krankheit, Leid oder Einschränkung geheilt zu werden; wenn wir im Licht der Christlichen Wissenschaft sehen, daß des Menschen wahres Sein die Widerspiegelung oder Idee Gottes, des Guten, ist und erkennen, daß Gottes Güte unparteiisch für alle Seine Kinder ausströmt. Laßt uns also bei unserem Fortschreiten himmelwärts die Tür des Denkens immer offen halten für die geistigen Ideen des göttlichen Lebens und der göttlichen Liebe, und ihnen eine Ruhestätte in unserem Bewußtsein geben! Wir müssen sie uns zu eigen machen.
Jeder von uns hat einen Ort, den wir „Beth-El“ nennen können, einen Ort, an den wir in unserem Denken kommen, wenn wir kein Heim, keine Liebe, keine Ruhestätte — keinen behaglichen Platz in der Materie — zu haben scheinen! Es ist ein Gedankenzustand, in den wir kommen, wenn sich das Herz auf der langen und zuweilen einsamen Wanderung nach Ruhe und Frieden sehnt. Es ist der Ort in unserem geistigen Wachstum, wo Gott, die göttliche Liebe, sich uns völliger offenbart; wo die Liebe uns klar den Weg heraus aus sterblichem Glauben, aus dem materiellen Sinn von Leben und Intelligenz zeigt. Hier lernen wir verstehen, daß Gott überall, wo wir sind, immer gegenwärtig ist, und wir entdecken, daß die Engel Seiner Gegenwart uns helfen, uns bis an die Tür des Himmels führen, wo Einmütigkeit herrscht und wir finden, daß Gott allerhaben ist.
Beth-El ist nicht nur der Ort, wo Gott uns die zum Leben, zu der Wahrheit und der Liebe führenden Stufen enthüllt, sondern es ist auch der Ort, wo wir uns unserer eigenen großen Bedürftigkeit bewußt werden; wo wir demütig genug werden, daß wir Gott suchen, unsere Hand in Seine legen und wie Jakob ein Gelübde tun. Wir geloben vielleicht nichts laut, aber im stillen, ehrlich und aufrichtig, wenn wir Gottes ausgestreckte Hand ergreifen und den Weg der Vergeistigung gehen, den Er uns gezeigt hat; wenn wir die Befriedigung unserer menschlichen Bedürfnisse nur von Ihm, von der göttlichen Weisheit und Liebe, erwarten, unser Leben somit von neuem Gott weihen und uns Seinen Engeln anvertrauen, daß sie uns auf dem ganzen Wege sicher und freudig leiten.
Wenn wir zur Zeit weder auf eigenen Wunsch noch aus eigener Absicht in Beth-El zu sein scheinen, wollen wir uns freuen, daß wir falschen Stolz, Furcht und Selbstsucht ablegen und uns in Begleitung von Engeln Schritt für Schritt zu einer neuen Daseinsauffassung erheben können. Wir brauchen keine Furcht zu haben! Gottes Engel, geistige Eingebungen, kommen vielleicht am Fuße der Leiter zu uns, und wenn wir diesen Gedanken lauschen, werden wir göttlich gestärkt und getröstet. Wenn wir diesen himmlischen Besuchern Gehör schenken, erheben wir das Denken zu Gott, wird es reiner, vom Selbst und vom Sinn befreit, und unser Weg, der zuerst so schwierig schien, wird überraschend freudig.
Nachdem Jakob einigermaßen gesehen hatte, daß in Gottes Fürsorge für ihn das Menschliche im Göttlichen inbegriffen war, ging er seines Weges, was wir heute auch tun können. Er hatte das Licht des Christus, der Wahrheit, gesehen und gelobt, den aufwärts führenden Weg zu gehen; aber er fand es zuweilen schwer, sein Versprechen zu halten, in seinem Denken auf dem Christus-Weg zu bleiben. Nach Jahren beschloß er, in sein Vaterhaus zurückzukehren. Auf dem Wege kam es ihm wieder zum Bewußtsein, daß er seinen Vater getäuscht und seinem Bruder Esau ein Unrecht zugefügt hatte. Er kämpfte mit den sterblichen Zügen, die geltend machten ihm anzuhaften, wie wir heute zuweilen damit kämpfen.
Aber die göttliche Liebe überließ Jakob nicht sich selber in dieser Stunde, wo seine geistige Auffassung vom Menschen mit seiner materiellen Auffassung von Leben in der Materie kämpfte. Da er Jahre zuvor in Beth-El zu der Wahrheit des Seins erwacht war, erkannte er jetzt die angreifenden Einflüsterungen besser, die geltend machten, seine Schritte himmelwärts zu hindern. Wieder sah er einen Engel, der ihm Erleuchtung und solche Klarheit in sein Denken brachte, daß er die Unwirklichkeit des Bösen wahrnahm und die Nichtsheit eines von Gott getrennten Lebens sah.
Schließlich sagte der Engel (1. Mose 32, 26): „Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.“ Aber Jakob ließ den Engel nicht gehen; da er aus der Erfahrung soviel geistiges Verständnis wie möglich gewinnen wollte, rief er: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Und es heißt in der Bibel: „Und er segnete ihn daselbst.“ Der materielle, persönliche Sinn war endgültig zurechtgewiesen; Jakob war umgewandelt. Sein wahres Selbst hatte in dieser Stunde der Anfechtung gesiegt, und dieses wirkliche Selbst war mächtig durch Gott, weil es nie von Gott getrennt gewesen war. Ebenso war sein wahres Selbst auf Grund seiner göttlichen Ermächtigung bei Menschen mächtig. Es ist das Selbst, das Christus Jesus später bewies, als er den Sturm stillte, auf dem Wasser ging, die Kranken heilte und Tote zu nützlicher Tätigkeit auferweckte.
Genau so werden wir gesegnet, geheilt und getröstet, wenn wir den Segen von Gott erbitten. In Pniel lernen wir uns vollständig an Gott, die Quelle alles Guten, wenden, weil wir dort durch geistige Erleuchtung erkennen, daß alles Gute, das wir je empfangen haben — alle Erkenntnis, Liebe und Heilung — nie von Personen oder Umständen, sondern von Gott kommt. Da Gottes Kind nie vom Vater getrennt werden kann, kann ihm die Substanz des geistig Guten und der göttlichen Liebe nie genommen werden.
Was hat es zu sagen, wenn man schwer kämpft mit einem Gefühl persönlichen Verlustes, des Mißlingens, der Selbstverdammung, oder wenn es einem schwerfällt, daß man ohne den liebevollen Rat und die Ermutigung, an die man vielleicht gewöhnt war, seinen Weg zu gehen hat? Was tut es, wenn man unter einem verwirrenden Gefühl der Niederlage oder infolge der angreifenden Einflüsterung leidet, daß die Christliche Wissenschaft versagt habe? Gottes Engel ist hier und jetzt gegenwärtig, zu stützen und zu ermutigen, bis die Wahrheit des Seins den Weg wieder erleuchtet und man in Begleitung von Engeln freudig auf der Leiter des Lebens emporsteigen kann. Niemand ist je allein, sondern immer allein mit Gott und Seinen Ideen. Unsere Führerin versichert uns in ihrer Botschaft an Die Mutter- kirche für das Jahr 1901 (S. 20): „Der Christliche Wissenschafter ist allein mit seinem eigenen Sein und mit der Wirklichkeit aller Dinge.“
Jeder von uns muß sowohl sein Pniel als auch sein Beth-El haben. In der Stunde, wo das Menschliche mit dem Göttlichen kämpft, können wir wie der Meister beten (Luk. 22, 42): „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Bei diesem Aufgeben des eigenwilligen sterblichen Sinnes kann jeder Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, und die Unzerstörbarkeit des Lebens, der Wahrheit und der Liebe und daher die Unsterblichkeit Gottes und des Menschen völliger als je zuvor verstehen lernen.
Die Offenbarung in Beth-El und der Kampf in Pniel, um die Offenbarung festzuhalten, bieten uns herrliche Gelegenheiten, die Immergegenwart der Liebe, den Strahlenglanz des Lebens, und die geistige Idee der Wahrheit zu beweisen. Der Tag des Geistes erweist sich als der einzige Tag, dessen sich der Mensch bewußt ist. Wir können Gott also demütig für die Erfahrungen danken, die uns zu der Offenbarung des Einsseins des Menschen mit Gott geführt haben, was für den Christlichen Wissenschafter Erlösung bedeutet.
