In den Evangelien ist berichtet, wie ein im jüdischen Gesetz bewanderter Schriftgelehrter Christus Jesus einmal fragte, welches das wichtigste der unzähligen Gebote in den fünf Büchern Mose's sei. Sofort führte der Meister aus dem 5. Buch Mose das Gebot an, Gott restlos und von ganzem Herzen zu lieben, und er fügte — aus Mose's sorgfältiger Zusammenfassung unserer Pflicht gegen unsern Nebenmenschen, wie wir sie im 19. Kapitel des 3. Buchs Mose finden — ein zweites hinzu (Matth. 22, 39): „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Lukas sagt uns, wie ein anderer Schriftgelehrter einmal um weitere Auskunft darüber bat: „Wer ist mein Nächster?“ Der Meister gab als Antwort darauf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der Schriftgelehrte hätte jedoch noch andere Fragen stellen können: „Was heißt wahrhaft lieben?“ und: „Wer ist dieses ‚ich selbst‘?“
Es bedarf keiner tiefen Wahrnehmung, um zu sehen, daß dieses zweite Gebot Habgier verbietet, zu Freundlichkeit ermutigt, Selbstüberhebung und Halsstarrigkeit zum Schweigen bringt und Gerechtigkeit hochhält; daß jemand, der es befolgt, einen andern nicht ungerecht oder unehrlich übervorteilt, nie kalt und gefühllos gegen seinen Bruder ist, und sein Denken, Reden und Handeln immer mäßigt durch die nützliche Gewohnheit, daß er versucht, „Dinge vom Standpunkt des andern aus zu sehen“. Aber für die Menschheit im allgemeinen nur soviel Zuneigung haben, wie wir für unsere menschliche Auffassung von uns selber haben, heißt die tiefe Bedeutung und Nützlichkeit des Gebots aus den Augen verlieren. Viele Sterbliche haben sich selber gar nicht gern; ja, wenn wir die kurze Erklärung des Apostels Paulus (Röm. 13, 10): „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ zum Prüfstein der Liebe machen, könnte von wenigen von uns gesagt werden, daß wir uns selber lieben; denn die Sterblichen leiden oft durch das, was sie sich selber zufügen.
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