Wir sind geneigt, alles von einem engen, menschlich begrenzten Gesichtspunkt aus zu beurteilen und Vergleiche zu ziehen auf Grund einer recht unsichern menschlichen Überlegenheit oder einer gewissen Autorität, die wir oder jemand anders haben mögen. Ein solches Urteil ist wertlos. Gott kennt keine menschlichen Maße; Er ist göttliche Liebe. Er richtet der Unendlichkeit des Guten entsprechend. Und so sieht Er überall nur Schönheit, nur Trefflichkeit und Güte, nur Harmonie, Intelligenz, Gesundheit, Freude und Vollkommenheit. Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, daß Gott alles wahrnimmt, was wirklich existiert.
Warum sollte der Schöpfer Vergleiche ziehen zwischen Personen, Dingen und Orten? Er nimmt wahr! Und was Er sieht, ist die Entfaltung einer unendlichen Mannigfaltigkeit harmonischer Ideen, die mit allen erforderlichen Eigenschaften ausgestattet sind. Gott kann weder eine Vorstellung von Überlegenheit noch von Minderwertigkeit haben, denn Er ist sich ewiglich Seiner eigenen Allheit bewußt. Er kennt keine Furcht, keinen Neid oder Zweifel, denn Er ist zugleich die Substanz alles Guten und der Urquell aller Fülle. An einem Werk, das eine Handlung der göttlichen Liebe darstellt, gibt es gewißlich nichts zu kritisieren. Gott kennt nur die Wirklichkeit, nimmt nur die universale Harmonie wahr und regiert alles in Liebe; nichts steht außerhalb Seiner unfehlbaren Herrschaft.
Doch das sterbliche Gemüt richtet gern; es liebt Vergleiche zu ziehen, zu verdammen, strafen, kritisieren und zu verleumden. Christus Jesus warnte vor diesem Fehler mit folgenden Worten (Matth. 7:1–3): „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“ Der Fehler (der Splitter), den wir in unserem Bruder finden, deutet vielleicht unsere eigene Neigung zu scharfer Kritik (den Balken) an und einen Mangel an persönlicher Wachsamkeit über unsern eigenen Charakter.
Diese kritische Veranlagung des fleischlichen Gemüts bekundet sich in tausenderlei verschiedenen Arten, die alle dazu führen, einen Menschen oder eine Sache herabzusetzen. Es ist ein Gebot der Weisheit, unser Reden zu überwachen, besonders in Gesprächen, die sich allzu oft mit nicht anwesenden Personen beschäftigen. Manche Bemerkungen mögen völlig harmlos erscheinen, aber sofern sie nicht auf Wahrheit beruhen, können sie Feindschaft, Kränkung, Mißverständnis oder grausame Ungerechtigkeit hervorrufen.
Ist es da nicht besser, die Zunge zu überwachen und sich vor dem Splitter und dem Balken zu hüten, von denen der Meister sprach? Gottes Universum enthält so viele Wunder, wird von so viel Freude und Leben beseelt, ist von so viel interessanten Wesen bevölkert, daß dies zu verstehen genügen sollte, gegenseitiges Wohlwollen in soziale und alle übrigen Zusammenkünfte zu bringen, wie auch in die Unterhaltungen in der Familie oder mit Freunden. Die Verfasserin hat oft beobachtet, daß es ihre ganze Wachsamkeit erforderte, um zur rechten Zeit ein gütiges Wort zu sprechen oder sich die Gegenwart der Liebe zu vergegenwärtigen und so dem Unerbaulichen einer Unterhaltung ein Ende zu machen, und sie auf erhebendere und zuträglichere Themen zu richten.
Im Handbuch Der Mutterkirche stellt unsere Führerin Mary Baker Eddy die weise Forderung, daß „die Mitglieder dieser Kirche ... täglich wachen und beten [sollen], um von allem Übel erlöst zu werden, vom irrigen Prophezeien, Richten, Verurteilen, Ratgeben, Beeinflussen oder Beeinflußtwerden“ (Art. VIII, Abschn. 1). Diese Wachsamkeit müssen wir in jeder Einzelheit des täglichen Lebens zur Anwendung bringen, wenn wir unbedingt gehorsam sein möchten. Mrs. Eddy wußte, daß das Böse weder Person, Ort noch Ding ist, sondern nur eine aggressive Lügensuggestion. Es ist richtig, das Böse als eine Lüge zu verdammen, aber es ist falsch, das Böse mit Person, Ort oder Ding zu identifizieren, denn es ist ohne Wesenheit. Außerdem, welches menschliche Wesen wäre so unfehlbar, daß es sich das Recht anmaßen könnte, andere zu verurteilen, ohne zu riskieren, dann selbst gerichtet und verurteilt zu werden. Laßt uns wachsam sein, daß wir nicht in einem andern Unvollkommenheiten sehen, die noch in unserem eigenen Denken zu finden sind.
Laßt uns Jesu Haltung etwas näher betrachten. Als man das im Ehebruch ergriffene Weib zu ihm brachte, damit er es richte, genügte es ihm zu sagen (Joh. 8:7): „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Diese Antwort war so treffend, daß die anklagenden Pharisäer sich von ihrem Gewissen überwältigt fühlten und ohne Widerrede hinausgingen. Sie, die beabsichtigt hatten, das Weib einem menschlichen Gesetz gemäß zu steinigen, zogen sich in Schweigen zurück, und so hatten sie die Möglichkeit, ihr Urteil auf seinen Wert hin zu prüfen. Als sie alle gegangen waren, sagte Jesus zu dem Weibe: „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!“ Nie richtete oder verdammte der Meister oder beeinflußte er in irriger Weise. Selbst am Kreuz zeigte er seine Liebe, als er betete, daß seinen Verfolgern vergeben werden möge; er sagte (Luk. 23:24): „Sie wissen nicht, was sie tun.“ In der Tat, die fleischliche Mentalität, die nicht Gemüt ist, kennt nichts und bekundet weder Intelligenz, Vernunft noch Macht.
Warum also rein menschlichen Worten und Ansichten Gedanken der Kränkung oder der Selbstzufriedenheit beilegen? Der Psalmist sagte (146:3): „Verlasset euch nicht auf Fürsten noch auf Menschenkinder“ (engl. Bibelübers.). Laßt uns der äußeren Erscheinung, der persönlichen Wertschätzung oder menschlichen Traditionen verschiedenster Art keine Wirklichkeit geben. Auch in seinem Leiden bedrohte der Meister nicht seine Peiniger, noch rief er Strafen auf sie herab. Derlei Fragen überließ er, wie alles andere, dem göttlichen Gericht und der Weisheit der göttlichen Liebe.
Gottes Werk ist vollständig, harmonisch und fehlerlos. Die Rolle, die uns dabei zufällt, ist, dies zu beweisen, indem wir uns bemühen, als Ausdruck des Gemüts individuell zu sehen, zu denken, zu wirken, zu sprechen und zu leben. Das meinte Paulus, wenn er sagte: „Schaffet, daß ihr selig werdet.“ In dem Maße, wie wir noch damit beschäftigt sind, den materiellen Erscheinungsformen entsprechend zu messen, zu vergleichen und zu verurteilen, wirken wir im negativen Sinne. Unser eigenes Verständnis vom Guten ist das wahre Maß. Laßt uns nicht vergessen, daß wir als Gottes Ideen eins mit Ihm sind; daß wir weder außerhalb des göttlichen Lebens leben noch ohne göttliche Liebe lieben können. Wir können ohne Gemüt nichts wahrnehmen, ohne Seele nicht fühlen, ohne Wahrheit nicht wissen; wir können ohne Geist keine wahre Individualität ausdrücken, noch ohne Prinzip gerecht sein. Das Zeugnis des sterblichen Sinnes ist ohne Folgerichtigkeit; es ist unwahr und trügerisch.
Eine Heilung vollzieht sich immer dann, wenn das falsche Zeugnis aufgegeben und das Feld der göttlichen Liebe überlassen wird. Die Verfasserin hatte das folgende Erlebnis, als sie eine Weile Erzieherin eines besonders schwierigen Kindes war. Sie schrammte sich eines Tages den Arm an einem Baum, der mit giftigem Efeu bedeckt war. Bald bemerkte sie, daß der Arm anschwoll und sich entzündete. Da sie erst seit kurzem Anhängerin der Christlichen Wissenschaft war und auf dem Lande isoliert unter Menschen lebte, die sich nicht für die Christliche Wissenschaft interessierten, verneinte sie, so gut sie konnte, den immer beunruhigender werdenden Anschein des Bösen. Schließlich sah sie ein, daß sie wohl um Hilfe bitten müsse. Deshalb schrieb sie an einen Ausüber, schilderte ihm ihren Gemütszustand und bat um Behandlung. Der Antwortbrief enthielt eine Frage, die sie aufrüttelte: „Warum sind Sie so ungeduldig mit ihrer Schülerin?“ Dem folgten liebevolle und ermutigende Trostworte, die sie anregten, gewissenhaft ihr tiefstes Denken zu ergründen und es zu berichtigen. Sie entdeckte, daß sie das Kind in ihren Gedanken mit allen möglichen bösen Fehlern belastet und somit falsches Zeugnis wider ihren Nächsten abgegeben hatte. Nun machte sie sich an die Arbeit und verbrachte den Tag und die folgende Nacht im Ringen darum, ihr Bewußtsein von allem zu befreien, was es vergiftet hatte. Am nächsten Morgen konnte sie dem Ausüber mitteilen, daß sie frei und glücklich war. Für diese Erfahrung ist sie immer tief dankbar gewesen.
Wenn wir versucht sind, uns in der Lage des Anklägers zu fühlen, dann laßt uns eingedenk sein, daß nur Vollkommenheit das Bild und Gleichnis Gottes ist. Wir können dies in dem Maße erkennen, wie wir auf Gott schauen und können es so immer besser individuell zum Ausdruck bringen, bis zu dem Tag des vollen Sieges, wenn wir mit unserer großen und verehrten Führerin sagen werden (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 568): „Ein lauterer Gesang, süßer als er je zuvor zum hohen Himmel emporgedrungen ist, steigt nun klarer und näher zu dem großen Herzen Christi auf, denn der Ankläger ist nicht da, und Liebe läßt ihre ureigene und ewige Weise erklingen.“
