In ihrem Werk „Unity of Good“ (Die Einheit des Guten) beantwortet Mary Baker Eddy die Frage: „Glaubst du an Gott?“ mit diesen Worten (S. 48): „Ich glaube mehr an Ihn als die meisten Christen, denn ich habe keinen Glauben an irgendein anderes Ding oder Wesen. Er erhält meine Individualität — ja er ist meine Individualität und mein Leben.“ In dieser einen kurzen Erklärung deutet unsere geliebte Führerin den Grund an für das nie-endende Streben der Menschen nach der Freiheit, Gott zu verehren, zu denken und zu leben, wie sie göttlich inspiriert und geführt werden. Dieses Verlangen nach wahrer individueller Freiheit zieht sich wie ein goldener Faden durch das Gewebe der menschlichen Erfahrung und hat oft die Menschen zu heroischen Taten begeistert.
Unter göttlicher Leitung führte Moses ein Volk aus der Knechtschaft zu seinem rechtmäßigen Erbteil der Freiheit. Christus Jesus kam, um zu predigen: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10:30), womit er den Menschen als allein Gott untertan erklärte. Die amerikanischen „Pilgerväter“ wurden göttlich dazu geführt, in einer bisher unbekannten Welt mit großer Selbstaufopferung eine neue Ordnung aufzurichten, unter der die Menschen größere Freiheit erlangten, Gott in der Art zu verehren, die ihr Gewissen ihnen eingab.
Verschiedene menschliche Regierungsmethoden sind eingeführt worden, um die Heiligkeit und Würde des Individuums zu schützen und seine Freiheit des Ausdrucks zu wahren. Doch Regierungen, wie demokratisch sie auch sein mögen, können niemals an sich wahre Individualität gewähren, noch deren Ausdrucksfreiheit garantieren; denn diese Individualität ist auf göttliches Gesetz begründet.
Des Menschen wahre Individualität ist der Ausdruck Gottes. Sie ist die individualisierte Widerspiegelung aller göttlichen Eigenschaften, die die Gottheit ausmachen. Sie drückt das göttliche Gemüt in Intelligenz, Weisheit und Scharfsinn aus. Sie beweist den Geist in Stärke, Standhaftigkeit und Sittlichkeit. Sie offenbart Seele in wahrer Schönheit, Freudigkeit und Harmonie. Durch sie wird die Liebe in Herzlichkeit und Güte veranschaulicht; das Leben wird durch Vollkommenheit und Tätigkeit zum Ausdruck gebracht, die Wahrheit in Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Dank der eigentlichen Natur seines Seins ist der Mensch nicht nur mit geistiger Wesenheit ausgestattet, sondern auch mit gottgegebener und gotterhaltener Freiheit von der Knechtschaft der materiellen Sinne. Diese unendliche Individualisierung geht vom göttlichen Gemüt aus, wohnt dem Gemüt inne und verbleibt ewig in ihm. Es ist daher offenbar, daß es keine Macht geben kann, die sich der göttlichen Allmacht und ihrem unendlichen Ausdruck widersetzen oder sie hindern kann.
Wahre Individualität ist weit entfernt von den allgemeinen Annahmen einer endlichen, körperlichen Persönlichkeit. In ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ schreibt Mrs. Eddy (S. 336): „Gott ist individuell und persönlich in einem wissenschaftlichen, nicht aber in einem vermenschlichenden Sinne. Daher kann der Mensch, der Gott widerspiegelt, seine Individualität nicht verlieren; aber als materielle Empfindung oder als eine Seele im Körper verlieren die blinden Sterblichen die geistige Individualität aus den Augen. Die materielle Persönlichkeit ist nicht Realismus; sie ist nicht die Widerspiegelung oder das Gleichnis des Geistes, des vollkommenen Gottes.“
Manchmal hören wir, daß von einem Menschen gesagt wird, er habe eine gute oder anziehende Persönlichkeit oder auch eine wenig anziehende oder vielleicht sogar überhaupt keine Persönlichkeit. Was als wirkliche Güte oder Anziehungskraft ausgedrückt wird, stammt von Gott, unserem göttlichen Urquell. Was nicht gut, sondern abstoßend ist, stellt eine falsche Annahme in Beziehung auf den Menschen dar. Und diese falsche Annahme wird vollkommen überwunden durch das Verstehen, daß der Mensch ewiglich eine unwandelbare, göttliche, liebliche und liebenswerte Selbstheit besitzt.
Bei Bekannten der Verfasserin wurde ein Kind von verdrießlichem Wesen, Reizbarkeit und Empfindlichkeit geheilt, als man erkannte, daß diesem jüngsten Familienglied eine höchst ungerechte Behandlung zuteil wurde, indem es immerwährend zum Schweigen gemahnt wurde, um den Erzählungen und Berichten der älteren Geschwister zuzuhören. Die Heilung kam, als man erkannte, daß jeder, wie jung er nach den Berechnungen des sterblichen Gemüts auch sein mag, jetzt und immerdar seine individualisierte Vollständigkeit zum Ausdruck bringt. Die Mutter, die für diese Heilung unsagbar dankbar war, beschloß demütig, sich des göttlichen, unveräußerlichen Rechtes eines jeden Gotteskindes, seine wahre Individualität auszudrücken, mehr bewußt zu sein. Diese Heilung brachte auch eine beträchtliche Verminderung der Selbstsucht mit sich, die das Kind früher in seinem Verlangen nach Selbstbehauptung zum Ausdruck gebracht hatte, sowie anderer unschöner Züge, die der Annahme einer materiellen Persönlichkeit entstammten.
Heilungen, die sich auf die Voraussetzung von der Vollkommenheit Gottes, sowie des Menschen als Ausdruck Gottes, gründen, schließen weit mehr in sich als das, was gewöhnlich unter einem menschlichen Begriff von Freiheit verstanden wird. Wahre Freiheit, wie sie in der Christlichen Wissenschaft aufgefaßt wird, bedeutet Befreiung von allem Irrtum, von Sünde, Krankheit und selbst dem Tode. Diese Freiheit wird in verschiedenem Grade von unzähligen Männern und Frauen in der ganzen Welt bewiesen, wie aus den Zeugnissen in den christlich-wissenschaftlichen Zeitschriften sowie aus denen, die des Mittwochs in den Zeugnisversammlungen abgegeben werden, hervorgeht.
Aus allen Teilen der Welt kommen Berichte von einem großen Aufruhr im menschlichen Bewußtsein, der ein Erwachen der Menschen zu ihren individuellen Rechten voraussagt — zu der Tatsache, daß jeder Mensch ein Recht auf wahre Achtung und Gerechtigkeit hat und auf die Freiheit, seiner höchsten Auffassung des Rechten gemäß zu leben. Doch die wirkliche Freiheit des Menschen als Kind Gottes kann in der menschlichen Erfahrung nur durch das in der Christlichen Wissenschaft erlangte geistige Verständnis bewiesen werden.
In dem Maße, wie wir mehr von des Menschen wahrem, unverletzlichem Sein verstehen lernen, sehen wir ein, wie unrecht es ist, einen andern in irriger Weise zu richten, zu beraten, zu verdammen oder zu beeinflussen. Wenn wir in vollem Maße das Recht eines Menschen auf individuelle Entfaltung verstehen lernen, so werden wir nicht versucht sein, seinen Fortschritt, seine Demonstration noch sein Zeugnis zu kritisieren. Wir werden ihm vielmehr in tiefer Demut das gottgegebene Recht zuerkennen, sich in seiner eigenen Weise zu entfalten. Weder die schöne Rose noch die liebliche Lilie vergeudet ihre Zeit in müßiger Neugierde, Eifersucht oder Kritik hinsichtlich der Art, in der die andere sich entfaltet. Beide sind damit beschäftigt, sich dem Lichte zuzuwenden und aufwärts zu streben. Unsere Führerin schreibt (Nein und Ja, S. 11): „Der Mensch hat eine unsterbliche Seele, ein göttliches Prinzip und ein ewiges Sein. Der Mensch hat immerwährende Individualität; und Gottes Gesetze und ihr vernünftiges und harmonisches Wirken bilden seine Individualität in der Wissenschaft der Seele.“
