In der Hoffnung, eine Handhabe zu finden, um Jesu Lehren zu widerlegen, stellten die Pharisäer und Schriftgelehrten oft Fragen an ihn. Sie fragten ihn nach dem Zinsgroschen und ob einer Ehebrecherin vergeben werden dürfe, oder aus welcher Macht er seine Werke vollbringe. Immer überwand Jesus ihre teuflische Schlauheit mit christlicher Weisheit.
Wir lesen: Eines Tages „stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ (Luk. 10:25.) Die Frage: „Was muß ich tun?“ wird heute oft gestellt. Wenn ehrlich gefragt, verrät sie das Verlangen, das Rechte zu tun. Sie zeigt das Sehnen des menschlichen Herzens nach etwas Höherem, etwas, das nicht mehr enttäuscht, etwas Endgültigem. Sie zeugt von der Bereitwilligkeit, das Alte zu verlassen, von der Überzeugung, Höheres und Besseres leisten zu können. Eigenwille, Stolz und Selbstgerechtigkeit weichen dann der Demut, der Selbstlosigkeit und dem Gehorsam.
„Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ Nach dem biblischen Bericht gab der Schriftgelehrte vor, er wolle das ewige Leben erreichen. Obwohl der Meister wußte, daß er mit dieser Frage versucht werden sollte, nahm er sie doch ernst. Vielleicht erwartete der Schriftgelehrte auf seine Frage einen persönlichen Rat, eine eigens für ihn zugeschnittene Antwort. Er war zweifellos überrascht, daß Jesus kurzerhand mit einer Gegenfrage antwortete, mit einem Hinweis auf das mosaische Gesetz. „Wie steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du?“ fragte er.
Auf diese Gegenfrage Jesu antwortete der Schriftgelehrte prompt und absolut befriedigend. Seine Antwort umfaßte das ganze Gesetz und die Propheten. Er sagte: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Es ist nicht verwunderlich, daß Jesus diese Antwort guthieß, denn in ihr lag die ganze Tragweite, die ganze Segensfülle und das tief befriedigende Ausmaß göttlicher Beziehungen. Diese Worte führten die zahlreichen Einzelheiten des mosaischen Gesetzes auf einen gemeinschaftlichen Nenner zurück, auf den der Liebe des Menschen zu Gott und seinem Nächsten. Das Gesetz, so dargelegt, fordert von den Menschen, daß sie ihr ganzes Wollen und Streben, ihren ganzen Idealismus und ihre ganze Energie in der einzig erfolgversprechenden Richtung einsetzen.
Wir sollten uns fragen: „Was muß ich tun, um in meinem Heim Harmonie, in meinem Beruf Erfolg, für meinen Körper Gesundheit und für die Meinen und mich ausreichende Versorgung zu haben? Was muß ich tun, um ein nützliches Mitglied einer christlich-wissenschaftlichen Kirche und ein erfolgreicher Ausüber zu sein?“ Das sterbliche Gemüt möchte uns, infolge seiner Trägheit und Eigenliebe, dazu bringen, die Gelegenheiten ungenutzt vorübergehen zu lassen. Doch die Gelegenheiten werden zu Forderungen. Wir lernen erkennen, daß Gehorsam gegenüber der Wahrheit Mühsal und Kummer aus dem menschlichen Leben vertreibt, während Ungehorsam zu Problemen führt.
„Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte.“ Auf Seite neun in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ schreibt Mary Baker Eddy: „Dieses Gebot schließt viel in sich, ja, das Aufgeben aller rein materiellen Empfindung, Neigung und Anbetung.“ Wahre Zufriedenheit wird von dem gefunden, der sich Gott ohne Bedingung und Vorbehalt, uneingeschränkt und rückhaltlos hingibt. Für einen solchen Menschen ist es keine Aufgabe mehr, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Sich selbst lieben bedeutet, sich als die Widerspiegelung Gottes, als eine geistige Idee, als den Ausdruck der Liebe zu erkennen. Dieselbe Anerkennung seinem Nächsten zollen, heißt, ihn lieben wie sich selbst.
Die Antwort des Schriftgelehrten auf die Frage: „Wie steht im Gesetz geschrieben, wie liesest du?“ wurde, wie schon gesagt, von dem Meister gutgeheißen, denn er erwiderte: „Du hast recht geantwortet.“ Diese wenigen Worte zeigen, daß der Schriftgelehrte mit dem Buchstaben des Gesetzes wohl vertraut war, daß er es theoretisch beherrschte. Dann aber sprach Jesus jene bedeutungsschweren Worte: „Tue das, so wirst du leben.“
Dieser präzise Ausspruch, der an Klarheit nichts zu wünschen übrigläßt, weist auf eine Kluft hin, die überbrückt werden muß — die Kluft zwischen Buchstabe und Geist, zwischen Theorie und Praxis, Wort und Tat. Wohl jeder ist sich darüber klar, daß, wenn er von jeher getan hätte, was er als das Rechte erkannte, oder wenn er heute das Gute täte, das er kennt, dann wäre sein Leben weniger schwierig. Wie oft hören wir die Bemerkung: „Mir geht es wie Paulus, der sagte (Röm. 7:18): ‚Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht!‘ “
Ohne die Christliche Wissenschaft wagt der Mensch kaum, gegen die offensichtliche Unfähigkeit des sterblichen Gemüts anzugehen. Er flüchtet sich daher gern zu dem fatalistischen Standpunkt, der die Fähigkeit des Menschen, Vollkommenheit zu erlangen, untergräbt. Die Christliche Wissenschaft dagegen überbrückt die weite Kluft zwischen Dogma und Demonstration, indem sie im menschlichen Bewußtsein das geistige Verständnis erweckt, daß Gott dem Menschen die vollkommene Fähigkeit und Möglichkeit verleiht, die göttliche Wahrheit zu beweisen. Im Verhältnis zu diesem Verständnis wird das Wenn und Aber des sterblichen Gemüts überwunden, das sich dem Vorsatz, recht zu tun, stets entgegenstellt.
Wenn wir Gott, das Gute, ausdrücken, sehen wir das Leben in seiner wahren Einfachheit, in seiner Unkompliziertheit und Problemlosigkeit. Es dagegen unterlassen, im täglichen Leben Gutes zu tun, bringt Zwiespältigkeit, Kompliziertheit und Problematik in unsere Erfahrung. Sagte nicht Jakobus (4:17): „Wer da weiß Gutes zu tun, und tut's nicht, dem ist's Sünde“? Das wahre Verständnis von den Forderungen Gottes ist von einer Freude begleitet, die das Rechttun ganz natürlich werden läßt.
„Tue das, so wirst du leben.“ Es hat jemand ganz richtig gesagt: „Wenn wir die Gebote halten, dann halten die Gebote uns.“ Sie erhalten uns im Leben. Die Gebote halten und das göttliche Gesetz erfüllen, bringt geistige Werte in unser Leben, in deren Besitz wir sonst nie gelangen würden. Logischerweise muß Beharrlichkeit unsererseits in diesem göttlich geforderten Tun immer mehr Ewigkeitswerte in unser Bewußtsein bringen, bis eine Unterbrechung des Guten nicht mehr möglich ist; und das verstehen wir als ewiges Leben.
Christus Jesus war unser Vorbild, nicht nur in seinem Lehren, sondern auch in seinem Tun. Ist es anmaßend von uns, sein Werk des Trostes, der Befreiung und Vergebung, der Heilung und Auferweckung zum Leben nachzuahmen? Jesus selbst sagte (Joh. 14:12): „Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue.“ Es ist Gottes Vollmacht, mit der wir handeln, Sein Gesetz, das wir erfüllen müssen. Es ist Sein Verständnis, das uns erleuchtet, Seine Herrlichkeit, die sich in uns und durch uns offenbart.
In diesem wahren Bewußtsein heiligen wir uns selbst. So lieben wir Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte; so lieben wir unseren Nächsten wie uns selbst; und indem wir das tun, bekunden wir ewiges Leben.