In ihrer Definition für das Wort „Tag“ im Glossarium von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ schreibt Mary Baker Eddy folgendes (S. 584): „Die Dinge der Zeit und des Sinnes verschwinden in der Erleuchtung des geistigen Verständnisses, und Gemüt bemißt die Zeit nach dem Guten, das sich entfaltet. Dieses Entfalten ist Gottes Tag, ‚und wird keine Nacht da sein‘.“
Als der Psalmist über Gott sagte (Ps. 90:4): „Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“, da hatte er einen Schimmer erhascht von der Bemessung der Zeit durch das Gemüt. Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß Gemüt ein anderer Name für Gott ist, und daß das Gemüt den Menschen und das Universum zum Zwecke der Entfaltung des unendlichen Guten schafft. Der Mensch und das Weltall sind geistige Ideen im Gemüt — nicht materielle Körper im Raum — und es ist des Menschen Aufgabe, das Gemüt zum Ausdruck zu bringen, das göttlich Gute kundzutun.
Der Arbeitstag des Menschen wird nicht bestimmt von Morgendämmerung und Abenddunkel, da er von dem ununterbrochenen Licht des geistigen Verständnisses erleuchtet wird. Des Menschen Werk ist sein Leben, und da er zugleich mit dem göttlichen Gemüt existiert, ist sein Leben nicht eingezwängt zwischen Geburt und Tod, sondern er lebt und wirkt immerdar fort durch sein Zumausdruckbringen der Ideen des Gemüts. Jede Idee, die zum Ausdruck gelangt, vervielfältigt das Gute, und die Entfaltung des Guten geht im Weltall des Gemüts ewiglich weiter, ohne jemals unterbrochen zu werden oder zu einem Stillstand zu kommen.
Für das Denken der Sterblichen, das daran gewöhnt ist, in den Begriffen der Sonnenzeit zu folgern, kommen und vergehen alle Dinge: so scheint die Sonne auf- und unterzugehen, der Mond seine Phasen zu durchlaufen, und das Gute in Intervallen aufzutreten und wieder zu verschwinden.
Wenn sich aber das menschliche Denken mit Hilfe der Christlichen Wissenschaft allmählich von seinen eigenen Begrenzungen befreit und die Wahrheit annimmt, daß Gott das immergegenwärtige Gemüt ist und daß das Gemüt und die Ideen des Gemüts allezeit bei uns bleiben, gelangt es zu einem neuen Zeitbegriff. Mrs. Eddy setzt die Vergeistigung des Denkens einer Wiedergeburt gleich. In ihrem Werk „Vermischte Schriften“ sagt sie (S. 15): „Die Wiedergeburt ist nicht das Werk eines Augenblicks. Sie beginnt mit Augenblicken und geht in Jahren weiter; mit Augenblicken der Hingabe an Gott, des kindlichen Vertrauens und freudiger Aufnahme des Guten; mit Augenblicken der Selbstverleugnung und der Weihe des eigenen Selbst, mit himmlischer Hoffnung und geistiger Liebe.“
Diese Augenblicke bilden die Basis für die Bemessung der Zeit durch das Gemüt. Könnten wir ein Meßgerät für die Registrierung dieser Augenblicke ersinnen, so würde die Frage: wie alt bist du? neue Bedeutung für uns annehmen — sowie auch die etwas verdrießliche Frage: wie lange noch?
Ein Christlicher Wissenschafter, der dazu neigte, die Frage zu stellen: „Wie lange noch?“ erhielt eines Tages die weise Antwort: „Wenn Sie alles gelernt haben, was es an diesem Ort für Sie zu lernen gilt, kann keine Macht der Welt Sie hier festhalten.“
„Dieser Ort“ nimmt in unserm Erdendasein viele verschiedenartige Formen an, doch repräsentiert er immer die Annahme, daß die Entfaltung des Guten, der Gesundheit, des inneren Glücks oder der Versorgung unerklärlicherweise auf sich warten lasse, und daß die Zeit — wie das Gemüt sie bemißt — stillstehe.
In einer solchen Lage brauchen wir nötiger denn je die Augenblicke der Hingabe an Gott, jene Augenblicke, in denen alles Verlangen nach unabhängigem Handeln aufgegeben wird; die Augenblicke des kindlichen Vertrauens, in denen wir uns bedingungslos auf Gott verlassen; die Augenblicke, in denen wir das Gute freudig annehmen, in denen wir erkennen, daß uns das Gute immer und ewig zur Verfügung steht. Die Lektion, die „dieser Ort“ uns zu lehren hat, ist stets dieselbe: nämlich die, daß sich das unendliche Gute — ungeachtet des sterblichen Augenscheins — in diesem Augenblick an „diesem Ort“ entfaltet.
Jesus sagte einstmals (Joh. 5:17): „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch.“ Dies war seine Beschreibung von dem Werk eines Augenblicks, durch die ein Mensch, der 38 Jahre lang krank gelegen hatte, augenblicklich geheilt wurde. Dieser Mann lag am Teiche Bethesda und hegte die Annahme, daß das Wasser zu gewissen Zeiten heilende Eigenschaften besitze. Es ist, als habe er gefragt: „Wie lange noch muß ich an diesem Orte liegen? Wie lange muß ich noch warten, bis jemand kommt, der mich in den Teich hinabläßt? Wie lange noch werden andre Leute meine Hilflosigkeit ausnutzen, um vor mir hineinzukommen?“
Jesus stellte dem Menschen eine einzige, einfache Frage (Vers 6): „Willst du gesund werden?“ — das heißt: „Willst du die Lektion lernen, die dieser Ort dich zu lehren hat?“ Des Menschen Ausreden wurden dann kurz abgeschnitten von Jesu bündigem Befehl: „Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin!“ Und der Bericht lautet weiter: „Und alsbald ward der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.“ Welche Erfahrung entfaltete mehr Gutes: 38 Jahre der Hilflosigkeit oder ein einziger Augenblick geistigen Bewußtseins?
Jesu Lebenswerk wurde innerhalb von drei Jahren menschlicher Zeitrechnung vollbracht; doch war es reich an Augenblicken, die noch heute Gutes entfalten, und die dies immer weiter tun werden, solange Menschen die Gegenwart des heilenden Christus erkennen.
Unter der Randüberschrift „Vergeistigtes Bewußtsein“ schreibt Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 14): „Werde dir einen einzigen Augenblick bewußt, daß Leben und Intelligenz rein geistig sind — weder in noch von der Materie — und der Körper wird keine Klagen äußern. Wenn du an einer Annahme von Krankheit leidest, wirst du entdecken, daß du augenblicks gesund bist.“
Wenn schon ein einziger Augenblick der Inspiration ein solches Ergebnis zeitigt, wie können wir ermessen, wieviel Gutes sich entfaltet, wenn diese Augenblicke einander unaufhörlich folgen, wie dies im Reich des Gemüts geschieht? In diesen strahlenden Momenten geistiger Erleuchtung zeigt sich unser Lebenswerk in einer neuen Bedeutung; denn wir lernen nun, dasselbe nicht nach Tagen oder Jahren zu bemessen, sondern nach den Augenblicken, in denen das Gute sich entfaltet — wie das göttliche Gemüt die Zeit bemißt.
