Die heutigen Unruhen unter den Völkern der Welt zeigen, daß der extreme Nationalismus gleichbedeutend ist mit Selbstsucht, Stolz und Haß. „Aber“, so wird oft gefragt, „ist jede nationale Einstellung völlig falsch? Ist gar nichts Gutes daran?“
Um diese Fragen beantworten zu können, muß das Denken des Christlichen Wissenschafters unter die Oberfläche eines begrenzten menschlichen Begriffs von Güte tauchen, damit er die grundlegende Wahrheit der reinen geistigen Güte erkennen kann. Auf keine andere Weise kann der Wissenschafter dazu beitragen, eine beunruhigte Welt zu heilen. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Gott das göttliche Prinzip des Universums ist und daher die einzig wahre Quelle oder Ursache wirklicher Güte, und daß der geistige Mensch, das Bild und Gleichnis Gottes, die Idee dieses Prinzips oder Gemüts darstellt. Der individuelle Mensch als Ausdruck des einen unendlichen, unteilbaren göttlichen Gemüts kann kein privates, persönliches Gemüt haben. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, erklärt in ihrem Buch „Rückblick und Einblick“ (S. 56): „Alles Bewußtsein ist Gemüt, und das Gemüt ist Gott. Daher gibt es nur ein Gemüt, und dieses ist des unendliche Gute, das alles Gemüt durch die Widerspiegelung und nicht durch die Aufteilung Gottes verleiht.“ Und sie fügt hinzu: „Die Sonne strahlt Licht aus, aber nicht Sonnen; so spiegelt Gott sich selbst oder Gemüt wider, aber er teilt das Gemüt oder das Gute nicht in Gemüter auf, die gut und böse sind.“
Die Christliche Wissenschaft gebraucht den Ausdruck „persönlicher Sinn“, um den falschen Glauben an viele Gemüter zu bezeichnen — den Glauben, daß der Mensch ein sterbliches Wesen sei, mit einem eigenen Gemüt, das in einem materiellen Körper wohne und von ihm abhänge. Das Nationalgefühl schließt einen Glauben an eine Vielzahl von persönlichen Gemütern ein, denen gewissen mentale und physische Eigenheiten — sowohl gute wie auch schlechte — gemeinsam angehören. Also ist das Nationalgefühl eine Sammelvorstellung des persönlichen Sinnes.
Mrs. Eddy stellt den persönlichen Sinn in sehr bestimmter Weise bloß in ihrer Allegorie von einer Gerichtsverhandlung in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 430–442). Der Angeklagte, der Sterbliche Mensch, hat einen kranken Freund betreut und wird unter der Anklage des Persönlichen Sinnes im Gerichtshof des Irrtums dazu verurteilt, zu Tode gefoltert zu werden. Durch das Annehmen einer Vorstellung, persönlich gut zu sein, wird des dieser absurden Anklage im Gerichtshof des Irrtums unterworfen (S. 433): „Weil der Sterbliche Mensch seinen Nächsten geliebt hat wie sich selbst, ist er des Wohlwollens im ersten Grade schuldig, und dies hat ihn zu der Begehung des zweiten Verbrechens, der Leberbeschwerde, geführt, welche die materiellen Gesetze als Mord verdammen.“
Als der Fall an den Gerichtshof des Geistes verwiesen wird, in dem der Persönliche Sinn von dem Rechtsbeistand — der Christlichen Wissenschaft — bloßgestellt und gerügt wird, lautet das Urteil, das von den Geschworenen, den Geistigen Sinnen, gefällt wird: „Nicht schuldig.“ Das Beweisen, daß Gutestun ein Zeugnis von Gott, dem göttlichen Prinzip, ist, das sich durch Seine eigene Idee ausdrückt, hebt die ungerechten Strafen auf, die den guten Taten oft angehängt werden. So befreit uns die Christliche Wissenschaft von den Ungerechtigkeiten eines persönlichen Daseinsbegriffs.
Christus Jesus wurde einmal von einem reichen Jüngling angesprochen, der sagte (Matth. 19:16): „Guter Meister, was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben?“
Jesus erwiderte: „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott.“ Der Meister ließ diesen persönlichen Begriff von Gutsein nicht unwidersprochen durchgehen. Er wies die Vorstellung zurück, die in ihm lediglich ein gutes menschliches Wesen sah, das umherzog und Wunder tat. Er verzichtete auf eine jegliche von Gott getrennte Selbstheit. Er sagte vielmehr (Joh. 10:30): „Ich und der Vater sind eins.“ Christus Jesus ist unser Wegweiser, und wir folgen in seinen Fußtapfen, wenn auch wir diese Einheit des Seins, diese Untrennbarkeit von Vater und Sohn, bewußt anerkennen.
Der Apostel Simon Petrus begann seine Jüngerschaft mit einem ausgeprägt persönlichen Empfinden von Treue gegen den menschlichen Jesus. Jesus rügte diese Neigung viele Male. Das geduldige, liebevolle Wirken des Christus brachte Simon dazu, ein persönliches Empfinden von Liebe und Treue zugunsten des geistigen Begriffs von der göttlichen Liebe aufzugeben.
Wie in der Apostelgeschichte berichtet wird, hatte Petrus durch sein ausgeprägt persönliches Empfinden und durch seine nationalistische Einstellung das Allumfassende des wahren Christentums unbewußt geleugnet. Petrus wurde schließlich zu der Erkenntnis erweckt, „daß Gott die Person nicht ansieht; sondern in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm“ (10:34, 35).
Gute Eigenschaften werden manchmal mit einem negativen Charakterzug verknüpft. So kann man, wenn von den Mitgliedern einer Familie gesprochen wird, sagen hören: „Thomas ist der Begabtere, aber natürlich ist er sprunghaft. Sein Bruder Jakob ist das gerade Gegenteil, verläßlich aber schwerfällig.“ Wie mit Personen, so ist es auch mit Völkern. Einer Nation mag eine überschäumende Spontaneität zugesprochen werden, aber es mag ihr an Weisheit und ausgewogenem Urteilsvermögen fehlen; von einer anderen Nation mag gesagt werden, daß sie große moralische Stärke und unbezwinglichen Mut besitze doch gepaart mit einem aufreizenden Auftreten in selbstgewisser Überlegenheit. Eine weitere mag das warme Empfinden von Gutherzigkeit und eine Liebe zu allem Schönen ausdrücken, die aber durch Leidenschaft und Sinnlichkeit entstellt werden.
Die Wissenschaft zeigt, daß all die guten Eigenschaften, die von allen Völkern der Erde ausgedrückt werden, von Gott hergeleitet sind und in der geistigen Individualität zum Ausdruck kommen. Sie können daher in Wirklichkeit nicht mit negativen Eigenschaften verknüpft werden, noch können sie in ihr Gegenteil verfallen.
Mrs. Eddy sagt in „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 491): „Die geistige Individualität des Menschen ist niemals unrecht. Sie ist das Gleichnis von dem Schöpfer des Menschen.“ Die miteinander streitenden Elemente, die allen Phasen des persönlichen Sinnes eigen sind, werden durch das Verständnis von der wahren geistigen Individualität geheilt.
Diese Wahrheit wurde durch die Erfahrung eines Anhängers der Christlichen Wissenschaft bewiesen. Bei seinen geschäftlichen Unternehmungen stellte sich immer wieder die Suggestion ein, daß Personen einer bestimmten Nationalität eine hartnäckige Widersätzlichkeit bekundeten, die ihren Ursprung in Unwissenheit, Frömmelei oder Voreingenommenheit hatte. Diese Suggestion schien immer heftiger zu werden, bis der Christliche Wissenschafter dazu erweckt wurde, die geistige Wahrheit vom Menschen zu erklären und die Annahme von nationalen Merkmalen zu leugnen. Sofort vollzog sich ein spürbarer Wandel, und gegenseitige Wertschätzung und Achtung wurde in zunehmendem Maße bekundet.
Mehrere Jahre darauf erfuhr der Wissenschafter, daß in jahrhundertelanger, Tradition Abneigung und ein Mißtrauen zwischen seinem Volk und dem, welchem diese Menschen angehörten, bestanden hatte. Nun erkannte er, wie notwendig es gewesen war, sich selbst zu heilen von den Annahmen des persönlichen Sinnes und dessen Sammelvorstellungen, dem Nationalgefühl, um so seine Freiheit zu erlangen.
Weist diese Erfahrung nicht auf die friedenstiftende Macht hin, welche uns durch das geistige Verständnis verliehen wird, daß Güte, da sie weder persönlich noch national ist, die Offenbarwerdung des göttlichen Prinzips darstellt? Jeder Anhänger der Christlichen Wissenschaft vermag wertvolle Beiträge zum Weltfrieden zu leisten, indem er sich sowohl in seinen individuellen Erfahrungen wie auch in seinen Gebeten für die ganze Menschheit über die Täuschungen des persönlichen Sinnes und des Nationalgefühls erhebt.
