Die Christliche Wissenschaft zeigt, daß das Gebet ein von Herzen kommendes Streben nach einem besseren Daseinsbegriff ist — einem Daseinsbegriff, der frei ist von allem Unbehagen — und daß es diesen Herzenswunsch auch zu erfüllen vermag dank der Macht, die das Gebet wirksam werden läßt. Was ist nun diese Macht, und woher kommt sie? Jesus übte sie besser aus als irgendein anderer. Das Thema wird beleuchtet von Mrs. Eddy in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 496): „Halte beständig folgenden Gedanken fest — daß es die geistige Idee, der Heilige Geist und Christus ist, der dich befähigt, die Regel des Heilens mit wissenschaftlicher Gewißheit zu demonstrieren, die Regel, die sich auf ihr göttliches Prinzip, Liebe, gründet, die allem wahren Sein zugrunde liegt, es bedeckt und es umschließt.“
Die Macht, die das Gebet wirksam werden läßt, ist der Christus, und diese Christus- Macht stammt von Gott. Diese Macht ist daher ewig, immer gegenwärtig und für jeden überall erreichbar unter einer Bedingung, nämlich daß ein jeder, der sie sich zunutze machen will, in gewissem Grade christusähnliche Eigenschaften verkörpern und den Christus-Geist zum Ausdruck bringen muß. Der Christus ist der Weg, und es gibt keinen anderen Weg, denn Christus stellt die Summe der göttlichen Offenbarwerdung Gottes dar, die das menschliche Bewußtsein geistig erleuchtet.
Mrs. Eddy erkannte im Christus die Veranschaulichung von dem Zusammentreffen des Menschlichen mit dem Göttlichen. Daher stellt Gebet die wirksame Vergegenwärtigung eines solchen Zusammentreffens dar, indem es unser Sein in vollkommenen Gehorsam gegen die Absichten des Schöpfers bringt.
Eine grundlegende christusähnliche Eigenschaft, die im Gebet zum Ausdruck kommen muß, ist die Selbstlosigkeit. Wir wissen natürlich, daß ein Sterblicher nicht geneigt ist, den Blick von seinem Selbst zu wenden. Wer sich jedoch entschließt, den sterblichen Sinn zurückzuweisen, wird schon bald erkennen, daß man das materielle Selbst angesichts der wunderbaren Tatsachen der Gottesschöpfung aus den Augen verlieren kann, und zwar mit unerwarteten menschlichen Resultaten.
Es ist bedauerlich, daß im allgemeinen Sprachgebrauch „Gebet“ so oft als ein sinnverwandter Ausdruck für „Betteln“ angesehen wird. In Wirklichkeit jedoch ist Beten das genaue Gegenteil von Betteln; Beten heißt wissen, daß wir gegenwärtig teilhaben an dem allumfassenden Segen, der unparteiisch auf alle ausströmt. Gott, die überfließende Quelle alles Guten, lediglich zu bitten, uns zu geben, was wir benötigen, verrät eine Unwissenheit über die wahre Natur Gottes und des Menschen Einheit mit Ihm. Und solch eine Unwissenheit ist schon an sich ein Mangel. Wir verlieren eine Vorstellung von Mangel, indem wir Gottes unendliche Versorgung verstehen lernen, geradeso wie ein Kind in der Gewißheit geborgen ist, daß seine Mutter ständig für alles sorgt, dessen es bedarf.
Die Macht des Gebets wirksam werden zu lassen, erfordert ebenfalls Beharrlichkeit. Wir können unmöglich beten, das heißt uns vergegenwärtigen, daß der Mensch das Ebenbild Gottes, die Kundwerdung Gottes, ist, während wir gleichzeitig in Gedanken daran festhalten, daß wir oder andere arme, kranke oder böse Sterbliche seien. Wenn das Denken fortfährt, materielle Zustände zu beobachten, während die Lippen die ideale, geistige Wahrheit äußern, dann hat der Zweifel das Übergewicht, und Zweifel neigt, wie wir alle wissen, stets zum Negativen. Und wenn dem sterblichen Sinn mehr Glauben geschenkt wird als dem göttlichen Sinn, dann wird das Gebet zu einem bloßen Wunschdenken. Dann wird die Christus-Macht nicht bekundet, und die Befreiung von materiellen Suggestionen kann nicht verwirklicht werden.
Beim Beten können wir nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Wirksames Gebet duldet keine mentalen Vorbehalte. Es gibt kein „Ja, aber ...“ in dem wahren Gebet; hier gibt es nur das „Ja, ja; nein, nein“. Wie der Meister sagte (Matth. 5:37): „Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Alles, was uns zu dem Glauben an eine Vermischung von Geist und Materie führt, schafft eine Gedankenverwirrung, die das Gebet zu einem fruchtlosen Bemühen werden läßt. Der materielle Sinn muß dem geistigen Sinn weichen. Und der verbesserte materielle Zustand ist lediglich das äußere Zeichen dafür, daß das Bewußtsein von der Materie bis zu einem gewissen Grade dem Bewußtsein des Geistes gewichen ist.
An einem Mittwochabend befand sich ein Christlicher Wissenschafter, ein Mitglied einer Zweigkirche Christi, Wissenschafter, auf dem Heimweg, dem Gebet und seiner geistigen Bedeutung nachsinnend — Gedanken, zu denen er durch die Zeugnisversammlung, die er gerade besucht hatte, inspiriert worden war. Plötzlich traten zwei Männer aus der Dunkelheit auf ihn zu und forderten ihn auf, ihnen seine Brieftasche auszuhändigen. Er tat dies, und die zwei Männer eilten davon. Es wäre menschlich verständlich gewesen, wenn der Wissenschafter über seinen Verlust bestürzt und beunruhigt gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall. Befreit vom persönlichen Sinn durch die geistige Erhebung, die sein Bewußtsein durchdrang, erkannte er klar und ganz natürlich, daß Gott in Wirklichkeit für diese Männer sorgte, geradeso wie Er für Seine gesamte Schöpfung sorgt; und daß sie, auch wenn sie es nicht wußten, ebensoviel vom Leben und der Liebe ihr eigen nennen konnten, wie er oder irgendein anderer und daß daher ihre Rechtschaffenheit in Wirklichkeit durch nichts beeinträchtigt werden konnte.
Was tat der Christliche Wissenschafter, indem er diesen Gedanken nachging? Er liebte diese Männer, denn lieben heißt seinen Nächsten so sehen, wie Gott ihn erschaffen hat, und die auf diese Weise bekundete Liebe ist Gebet.
Plötzlich kamen die beiden Männer zurück und händigten ihm die Brieftasche wieder aus; dabei sagten sie nur, daß sie sie nicht haben wollten. Umfaßte diese Erfahrung nicht weit mehr als das bloße Zurückerhalten der Brieftasche? Ja, sie war eine Kundwerdung der Macht des Christus, die die anmaßende Behauptung des Bösen, es könne einen Menschen benutzen und ihn irreführen, zunichte machte. Sie war ein Beweis dafür, was das Gebet zu tun vermag.
Wenn eine Heilung durch das Gebet in der Christlichen Wissenschaft wirklich erlangt worden ist, dann tritt der unharmonische Zustand nie wieder auf, weil das heilende Gebet unser Sein in dem Reich des Ewigen verankert durch die Christus-Wahrheit, die stets dieselbe bleibt „gestern und heute und ... auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13:8). Laßt uns das Gebet nicht bloß als ein gelegentliches Zufluchts- oder Befreiungsmittel ansehen. Wir sollten nicht nur für unsere täglichen Bedürfnisse beten, sondern für ein reiches Maß von Verständnis, von selbstloser Liebe und geistiger Stärke, damit wir befähigt sein mögen, jedem unvorhergesehenen Umstand entgegenzutreten.
Wenn wir ein Verständnis von Gott haben, von Wahrheit, Leben und Liebe, ist alles möglich, und das Gebet des Glaubens kann dies beweisen. Lassen Sie uns aber in diesem Wissen unbeirrbar „wandeln im Glauben, und nicht im Schauen“ (2. Kor. 5:7). Glauben ist weit mehr als bloße Zuversicht. Glauben umfaßt eine positive Kenntnis der Tatsachen, die der menschliche Sinn nicht erschaut oder erfaßt hat. Zu sagen: „Wenn ich erlöst werde, werde ich glauben“, stellt eine Umkehrung des Gebets dar. Glaube, der sich dem materiellen Augenschein unterwirft, ist kein Glaube mehr. Doch wenn der Glaube stärker ist als der materielle Augenschein, dann weicht dieser Augenschein und unterwirft sich dem Glauben.
Solch ein Gebet erfordert weder gebeugte Knie noch gefaltete Hände, noch geschlossene Augen. Im großen ganzen schließen wir vielleicht unsere Augen viel zu sehr gegen den falschen Augenschein. Und doch brauchen wir unsere Augen nicht vor etwas zu verschließen, das wir als falsch erkannt haben; wir können voller Gewißheit diese Falschheit durchschauen und sie zerstören. Unser Glaube sollte so lebendig sein, daß der plötzliche Anblick eines irrigen Zustandes unsere geistige Schau von der harmonischen Wirklichkeit nicht auszulöschen vermag und daß kein negativer Bericht unsere standhafte Überzeugung zu erschüttern vermag, daß das Leben die unzerstörbare Kundwerdung des ewigen Guten ist.
Mrs. Eddy sagt in ihrem Werk „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ (Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 203): „Bete richtig und beweise dein Gebet.“ Es geht also nicht um die Frage, ob Gott unsere Gebete erhört, sondern ob wir durch Gottes Liebe angesprochen werden, ob wir diese Liebe fühlen, sie verstehen und für sie zeugen. Unsere Gebete sind die Prüfsteine für unsere Wünsche, für unser verborgenes geistiges Verlangen. Sie führen uns zu einer Überprüfung unserer Ideale, unserer Zuneigung, und sie veranlassen uns, unsere sterblichen Wünsche von unseren göttlichen Zielen zu trennen. Jesus sagte: „Euch geschehe nach eurem Glauben“ (Matth. 9:29). Was ist unser Glaube? In wen, in was, verankern wir ihn? Die Antwort auf diese Frage geben unsere Gebete.
„Richtig beten“ bedeutet vom Standpunkt der Wahrheit und der Liebe aus denken und leben, und diese Ausdrucksform des Denkens und des Daseins wirkt den hartnäckigen, einschläfernden und hypnotischen Wirkungen materieller Suggestionen entgegen, geradeso wie frische Luft eine schlechte Atmosphäre ganz natürlich reinigt.
„Richtig beten“ heißt göttliche Gedanken, heilige Ziele, erhabene Wünsche, ja „die Engel Seiner Gegenwart“ beherbergen, die von Gott ausgehen und zu Ihm zurückkehren, um Ihn zu verherrlichen. Über diese Engel sagt Mrs. Eddy auf Seite 512 von „Wissenschaft und Gesundheit“: „Diese Engel Seiner Gegenwart, denen die heiligste Aufgabe obliegt, sind in der geistigen Atmosphäre des Gemüts in Überfülle vorhanden und bringen infolgedessen ihre eignen Kennzeichen aufs neue hervor.“ Es ist wichtig für uns zu verstehen, daß diese göttlichen Boten „ihre eignen Kennzeichen aufs neue“ hervorbringen. Sie fährt dann fort: „Ihre individuellen Formen kennen wir nicht, aber wir wissen, daß ihre Naturen der Natur Gottes verwandt sind und daß die also bildlich dargestellten geistigen Segnungen verkörperte und doch subjektive Zustände des Glaubens und des geistigen Verständnisses sind.“ Über diese Worte müssen wir nachsinnen.
Das Gebet, das durch Demonstration Früchte trägt, ist die Vergegenständlichung der geistigen Idee, der Christus-Idee, die von Gott ausgeht und von den Menschen im täglichen Leben zum Ausdruck gebracht wird. Das Leben unserer Führerin Mrs. Eddy war ein höchst inspirierendes Beispiel für wahres Gebet. Sie pflegte beständig und getreulich die rechte Idee. Ihre Selbstlosigkeit, ihre Hingabe an Gott und ihre Liebe zum Menschen waren ungeteilt; und eben aus diesem Grunde wurde ihre absolute Gewißheit von der Allerhabenheit Gottes niemals auch nur von dem Schatten eines Zweifels beeinträchtigt. Sie betete mit ihrem Herzen. Die Christus-Liebe war die Triebkraft ihres Seins, und sie demonstrierte diese selbst angesichts hartnäckiger, materieller Widerstände.
Wir, die wir danach streben, ihre Nachfolger zu sein, müssen uns bemühen, „richtig zu beten“, wie sie es tat, und unser Gebet beweisen.