Das Forschen nach der Wahrheit und die Liebe zur Schönheit sind schon seit frühesten Zeiten charakteristische Merkmale des Menschengeschlechtes gewesen. Die Wahrheit ist im allgemeinen ihrem Wesen nach als pragmatisch angesehen worden und ihre Erkenntnis hauptsächlich deshalb als wünschenswert, weil ihre Anwendung praktische Auswirkungen zeitigt. Oft nahm man an, sie habe wenig mit Schönheit gemein.
Schönheit ist häufig sowohl ihrem Wesen nach wie auch in ihrer Wirkung auf den Betrachter als überwiegend sinnlich oder physisch angesehen worden, und daher als etwas, das nicht unmittelbar mit der Wahrheit verknüpft ist. Selbst heute noch schließt Schönheit für die volkstümliche Auffassung im allgemeinen kein geistiges Element in sich.
Die Christliche Wissenschaft erkennt keine solche Abgesondertheit zwischen den Ideen der Schönheit und denen der Wahrheit an. Ihre Lehren zeigen, daß die Wahrheit auf das hinweist, was wirklich ist, indem sie dessen Fortdauer, Güte und Macht betont, während die Schönheit das Anziehende zum Ausdruck bringt, die gefällige und völlig befriedigende Natur der Wahrheit. Daher ist Schönheit eine Gott, der Wahrheit, innewohnende Eigenschaft und untrennbar von Ihm und Seiner Offenbarwerdung. Es gibt keine wirkliche Schönheit ohne Wahrheit und keine Wahrheit ohne Schönheit, denn nur in dem Maße, wie eine Idee, ein Zustand, ein Ding oder eine Tat irgendein Merkmal des Guten und der Wahrheit bekundet, wird es wahrhaft schön sein und so erscheinen.
Unsere Führerin, Mrs. Eddy, definiert die geistige Natur wahrer Schönheit im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft unter der Randüberschrift: „Die göttliche Lieblichkeit“, wo sie schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 247): „Anmut und Liebreiz sind unabhängig von der Materie. Das Sein besitzt seine Eigenschaften, ehe sie menschlich wahrgenommen werden. Schönheit ist ein Ding des Lebens, sie wohnt immerdar in dem ewigen Gemüt und spiegelt den Zauber Seiner Güte in Ausdruck, Gestalt, Umriß und Farbe wider. Liebe ist es, die das Blumenblatt mit tausend Farben malt, die in dem warmen Sonnenstrahl glänzt, die über der Wolke den Bogen der Schönheit wölbt, die die Nacht mit Sternjuwelen ziert und die Erde mit Lieblichkeit deckt.“
Wahre Schönheit ist der Ausdruck ureigenster geistiger Vollkommenheit; sie stellt das dar, was die Vergegenständlichung einer geistigen Idee von dem Erzeugnis bloßen menschlichen Intellekts, von den Launen sich wandelnder menschlicher Geschmacksrichtungen und Maßstäbe, unterscheidet.
Wahrheit ist die Substanz, die die geistigen, moralischen und intellektuellen Fähigkeiten durch ihr anziehendes Wesen anspricht, und so auch für die menschlichen Sinne wahrhaft schön erscheint. Die Wahrheit eines Dinges wird durch dessen sittliche Grundlage und dessen Daseinsberechtigung bestimmt.
Da die Wahrheit die allem zugrunde liegende Wirklichkeit darstellt, ohne ein einziges Element des Irrtums — und daher völlig gut —, bildet sie in ihrer praktischen Anwendung, auch das vollkommene Richtmaß der Sittlichkeit, den Wesenskern für ein makelloses Leben; sie ist daher der eine unfehlbare Wegweiser im menschlichen Leben. Ein unter ihrem Schirm und Schild geführtes Leben ist ein wahrhaft schönes Leben. Und da die Wahrheit die göttliche Liebe ist, fehlt es ihrem menschlichen Ausdruck niemals an Zärtlichkeit, Verständnis, Nachsicht und christusähnlicher Liebe. Dies bewahrt ein auf einer hohen sittlichen Ebene geführtes Leben davor, zu einem kalten, des Mitgefühls entbehrenden, hochmütigen Dasein zu werden, das rechtlich gesehen zwar sündlos, aber niemals schön, niemals anziehend, sein kann.
In der allgemeinen Lebensführung sowohl wie auch in den sogenannten schöpferischen Künsten stellt das Streben nach Schönheit ohne Berücksichtigung der Wahrheit und ihrer sittlichen Forderungen weder ein schönes Leben noch eine echte Kunst dar, sondern führt zu materiellem Wohlleben und kann zur Brutstätte der Unsittlichkeit werden. Andererseits bleibt die Liebe zur Wahrheit, wenn es ihr an einem Gefühl für die Schönheit und Güte der Wahrheit mangelt, kalt und abstrakt.
Dieses Miteinanderverknüpftsein von geistiger Wahrheit und wahrer Schönheit kann nicht durch die materiellen Sinne erkannt oder empfunden werden, noch kann das materielle Wissen allein zu seiner Erkenntnis verhelfen. Nur die Erziehung der höheren Natur — eine Redewendung, von der Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit“ wirkungsvollen Gebrauch macht — vermag die benötigte geistige Fähigkeit zu entwickeln. Diese Erziehung vergeistigt den Charakter, veredelt das menschliche Leben, indem sie es über eine rein materielle Form der Anbetung erhebt, und ihm die Stabilität der Wahrheit verleiht, die Gewißheit der Harmonie, die Substanz stiller geistiger Befriedigung sowie die Fähigkeit, die Schönheit, Güte und Wahrhaftigkeit des wirklichen Seins zu demonstrieren.
Dies sind einige der Eigenschaften, die den Charakter des wirklichen Menschen bilden, wie er durch den Christus offenbart und von Christus Jesus beispielhaft dargestellt wurde. Der Christus war sein Charakter, seine göttliche Natur, seine wahre Selbstheit, der Wesenskern und die Bedeutsamkeit seiner Lehren. Christus Jesus ist das höchste Beispiel für ein vollkommenes Ineinanderübergehen von Schönheit und Wahrheit im Charakter und im Leben. Dies ist das wahre Richtmaß der Schönheit, das unsere geliebte Führerin inspirierte und das sie ihren Nachfolgern als Vorbild gab.
Solch eine geistige Entwicklung, die uns zum Wesen des Christus hinführt, ist für jeden möglich, denn unsere Führerin versichert uns im Lehrbuch, daß die niedere, fleischliche Natur die höhere, geistige Natur nicht beherrscht und daher nicht störend auf die Ausbildung und Entfaltung der letzteren einwirken kann. Selbstsucht und Sinnlichkeit jedoch verzögern das geistige Wachstum; sie sollten durch den Einfluß der Christlichen Wissenschaft aus dem menschlichen Denken ausgeschlossen werden. Wenn möglich, so sollte diese höhere Erziehung schon in der Kindheit einsetzen, und sowohl das Heim wie auch die Schule tragen dazu bei. Mrs. Eddy nimmt hierauf Bezug, wenn sie schreibt (ebd., S. 235): „Schulprüfungen sind einseitig; wir werden nicht so sehr durch akademische Erziehung, wie durch moralische und geistige Bildung gehoben.“
Eine menschliche Lebensgemeinschaft ist nur in dem Maße schön und wünschenswert, wie sie den höheren sittlichen Forderungen der Wahrheit entspricht. Sie stellt daher den geeigneten Ausgangspunkt für die Erziehung der höheren Natur aller Beteiligten, und in der Ehe für die der Kinder, dar.
Ohne eine lebendige Vorstellung von der Schönheit der Wahrheit können wir in Wirklichkeit kein ausreichendes Verständnis von Gott haben, noch können wir uns als den höchsten Forderungen des christlich-wissenschaftlichen Heilens gewachsen erweisen. Mrs. Eddy spricht von der Macht der Christlichen Wissenschaft, die Toten zu erwecken, wie Christus Jesus es tat, und faßt die damit verbundenen Forderungen wie folgt zusammen (Rückblick und Einblick, S. 88): „Die geistige Bedeutung dieses Gebotes:, Weckt die Toten auf‘, ist höchst wichtig für die Menschheit. Sie bedingt ein so erhöhtes Verständnis, daß der Gedanke imstande ist, die lebendige Schönheit der Liebe zu erkennen — ihre Anwendbarkeit, ihre göttliche Tatkraft, ihre gesundheitbringenden und lebenspendenden Eigenschaften, ja, ihre Macht, die Unsterblichkeit zu beweisen. Dieses Ziel erreichte Jesus durch Beispiel und Lehre.“
Im Lichte dieser von tiefer, geistiger Bedeutung durchdrungenen Erklärung mag der Christliche Wissenschafter sehr wohl sein von Herzen kommendes Gebet um größere Heilungswerke in die Worte des Psalmisten kleiden (Ps. 90:16, 17): „Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Ehre ihren Kindern. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns; ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern!“