Vernunft und Intellekt sind die Hauptmittel, durch die das weitläufige Gebäude menschlicher Gelehrsamkeit errichtet worden ist, und die Entwicklung und Vervollkommnung dieser Eigenschaften ist eine sehr wichtige Aufgabe der Erziehung, besonders an den Universitäten. Ohne sie würde die zivilisierte Gesellschaft einen großen Teil ihres Wertes und ihrer Bedeutung verlieren. Es erhebt sich die Frage: „Wie weit sind Vernunft und Intellekt für die Erlangung eines Verständnisses von der Christlichen Wissenschaft [ Christian Science Sprich: kr’istjen s’aiens.] von Nutzen?“
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft [Christian Science ], spricht sich anerkennend über den Intellekt aus, aber sie macht auch darauf aufmerksam, daß mehr als menschliche Vernunft und intellektuelles Wahrnehmungsvermögen notwendig sind, um einen Menschen zu befähigen, ein beweisbares Verständnis von der Wahrheit über Gott und den Menschen zu erlangen. Sie weist darauf hin, daß sie diese Wissenschaft durch Vernunft, Offenbarung und Demonstration entdeckte; Vernunft allein hätte, da sie endlich ist, die unendliche heilende Wahrheit nicht entdecken können.
Unter der Randüberschrift „Moralischer Mut“ schreibt Mrs. Eddy in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ über den Menschen, der Befriedigung durch materielle Mittel zu erlangen sucht (S. 327): „Vernunft ist die tätigste menschliche Fähigkeit. Laß sie die Empfindungen belehren und des Menschen schlummernden Sinn für die moralische Verpflichtung wecken. Dann wird der Mensch stufenweise die Nichtsheit der Freuden des menschlichen Sinnes und die Erhabenheit und Glückseligkeit eines geistigen Sinnes begreifen lernen, der das Materielle oder Körperliche zum Schweigen bringt.“ Ferner schreibt sie (ebd., S. 460): „Unser System des Gemüts- Heilens beruht auf dem Erfassen der Natur und des Wesens allen Seins — auf dem göttlichen Gemüt und auf den wesentlichen Eigenschaften der Liebe. Seine Arzneikunde ist sittlich und seine Medizin intellektuell und geistig, obgleich es auf physisches Heilen angewandt wird.“
Ein Wörterbuch (The Oxford English Dictionary) definiert „Intellekt“ zum Teil als „diejenige Fähigkeit oder Summe von Fähigkeiten des Gemüts oder der Seele, durch die der Mensch weiß und vernunftgemäß urteilt“, und unterscheidet den Intellekt vom Fühlen und Wollen. Die Vernunft jedoch muß von irgendwelchen Voraussetzungen ausgehen. Die Vernunft, die Gott außer acht läßt und vielleicht Seine Existenz anzweifelt, kann nicht und wird auch niemals zu richtigen Schlüssen führen. Vernunft, die sich auf die Erkenntnis von Gott als dem einzigen Urheber des Menschen gründet, auf die Tatsache, daß Geist — Gemüt, Liebe — die einzig wirkliche Macht und der einzig wirkliche Schöpfer ist, trägt dazu bei, das menschliche Denken in engere Beziehung zum göttlichen Bewußtsein zu bringen.
Mrs. Eddy sagt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 454): „Bedenke, daß der Buchstabe und das mentale Argument nur menschliche Hilfsmittel sind, die dazu dienen sollen, den Gedanken mit dem Geist der Wahrheit und der Liebe, der die kranken und die Sünder heilt, in Einklang zu bringen.“
Vernunft, intellektuelles Wahrnehmungsvermögen und Argument allein heilen nicht; aber sie sind ein wertvoller Bestandteil jenes Vorgangs, durch den viele Zustände des menschlichen Denkens über die irrigen und quälenden materiellen Annahmen hinaus zum geistigen Verständnis erhoben werden, das heilt. Systematisches Richtigstellen der Gedanken, die mit Gottes wahrem Wesen unvereinbar sind, und konsequentes, logisches Folgern von der rechten Basis aus trägt dazu bei, das Denken des Ausübers und des Patienten zu berichtigen, bis das vollkommene, geistige Wesen Gottes und des Menschen klarwird und Seine geistigen Gesetze, die den Menschen und die gesamte Schöpfung regieren, das ganze Bewußtsein erfüllen. Es ist dieses geistige Verständnis, das heilt.
Manchmal wird angenommen, daß intellektuelle Tüchtigkeit daran hindert, die Christliche Wissenschaft [Christian Science] anzunehmen und zu verstehen. Dies sollte nicht der Fall sein, denn was menschlich als intellektuelle Fähigkeit angesehen wird, ist oft nur ein unvollkommener Begriff von der Kundwerdung der göttlichen Intelligenz. Wenn diese Fähigkeit richtig benutzt wird, dann hemmt sie das Verständnis nicht, sondern fördert es.
Oft wird jedoch angenommen, daß der Intellekt ein persönlicher Besitz sei, und manche Intellektuelle mögen denken, daß dieser vermeintliche Besitz sie auf irgendeine Weise ihren Mitmenschen überlegen mache. Sie sollten bedenken, daß die Wissenschaft des Christus und auch einige andere Religionen einer gesunden Moral mehr Wichtigkeit beimessen als intellektueller Tüchtigkeit und daß wenige der Jünger Jesu, wenn überhaupt einige von ihnen, hochgebildete Menschen waren. Das trifft auch auf viele erfolgreiche Ausüber der Christlichen Wissenschaft zu.
Der menschliche Intellekt kann auf verschiedene Weise völlig in die Irre gehen. Die Intellektuellen bleiben oft bei der Theorie stehen und setzen Spekulation und vielleicht einige Erkenntnisse an die Stelle jenes echten Verständnisses, das Herrschaft und Autorität verleiht. Diese Intellektuellen halten es nicht für notwendig, die Theorie in die Praxis umzusetzen. „Intellektualismus“ ist in Webster's Wörterbuch zum Teil definiert als „der Standpunkt, daß Wissen von der reinen Vernunft hergeleitet wird; die Lehre, daß das endgültige Prinzip der Wirklichkeit die Vernunft ist.“
Der Intellektualismus kann auf Irrwege der Spekulation und Gelehrsamkeit führen, denen oft nicht nur schwer zu folgen ist, sondern die es gar nicht wert sein mögen, daß man ihnen folgt, denn die Vernunft kann Schlußfolgerungen nur von den Voraussetzungen aus erarbeiten, von denen sie ausgeht. Wenn diese falsch sind oder wenn sie sich in übertriebener Weise auf einen kleinen Teil dessen konzentrieren, was wahr sein mag, dann vermitteln intellektuelle Denkprozesse bestenfalls ein verzerrtes Bild und manchmal ein ganz und gar falsches. Recht oft sind die Voraussetzungen, auf die sich ein Argument gründet, nicht ausdrücklich angegeben, sondern sind ohne besondere Erwähnung eingeflochten; manchmal mag beträchtliche Wachsamkeit erforderlich sein, um zu entdecken, was diese besagen.
Die Menschen neigen dazu, sich mehr auf den Augenschein der physischen Sinne zu verlassen als das Verständnis von der geistigen Schöpfung zu suchen und alles zurückzuweisen, was dem Geist unähnlich ist. Und der menschliche Intellekt versucht, diesen unsicheren Verlaß zu rechtfertigen. Die menschliche Vernunft untersucht das vermeintliche Wesen und den vermeintlichen Ursprung des Bösen, das eine Verneinung Gottes und Seiner harmonischen Schöpfung darstellt, während es doch weit segensreicher und interessanter wäre, das Gute so von ganzem Herzen zu studieren und zu betätigen, daß der Anschein des Bösen, das niemals etwas anderes als Irrtum ist, verschwindet.
Die göttliche Intelligenz Jesu erschien vielen, die ihn kannten, als hochgradiger Intellekt. Als er noch ein Knabe war, fand man ihn „im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte“ (Luk. 2:46). Und ferner heißt es: „Alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes und seiner Antworten.“ Als er später seine Mission aufgenommen hatte und lehrte, wunderten sich die Juden „und sprachen: Wie kennt dieser die Schrift, obwohl er sie doch nicht gelernt hat?“ (Joh. 7:15.) Jesus ist das erhabene Beispiel für einen Menschen, der sein Verständnis ständig in die Praxis umsetzt, und er heilte alle Arten von Krankheit und Sünde.
Gott ist Intelligenz, das unendliche, allwissende, allgegenwärtige und allmächtige Gemüt. Diese göttliche Intelligenz steht allen zur Verfügung, die sie gebetvoll und konsequent beanspruchen; und wenn wir uns dem göttlichen Gemüt immer mehr angleichen, werden unsere menschlichen Fähigkeiten und unser Intellekt zunehmen. Aber sie werden nicht unser Privatbesitz sein, denn das göttliche Gemüt schließt alles ein und umfängt alles, was wirklich ist; noch könnte das Verstädnis vom Gemüt intellektuelle Eitelkeit verleihen.
Jesus sagte seinen Zuhörern, daß er nichts aus sich selber tun könne, und er war dem Willen seines Vaters stets gehorsam. Es war sein demütiger, selbstloser Gehorsam, der ihn befähigte, seine mächtigen Werke zu tun: zu heilen, den Sturm zu stillen, Tausende seiner Zuhörer zu speisen und den Tod zu überwinden.
Der menschliche Verstand muß in der rechten Richtung entwickelt werden, und er muß lieblose Gedanken aus dem Bewußtsein ausmerzen, Gedanken der persönlichen Unzulänglichkeit oder des menschlichen Stolzes, der Sünde und der Krankheit und alles dessen, was dem göttlichen Gemüt unähnlich ist. Wenn die Unterweisung, die Paulus den Korinthern in der geistigen Kriegführung gab: „Phantasiegebilde niederzureißen und alles Hohe, das sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken unter den Gehorsam Christi gefangenzunehmen“ (2. Kor. 10:5 — n. der engl. Bibel), voll und ganz befolgt wird, wird sie den menschlichen Intellekt so umwandeln, daß er durch diese göttliche Disziplin schließlich in der vollkommenen göttlichen Intelligenz, dem Gemüt oder der Liebe, aufgehen wird.
