In einer Zeit, in der die sittlichen und geistigen Werte in der akademischen Welt und in gesellschaftlichen und geschätlichen Kreisen im Absinken begriffen sind, ist es gut, darüber nachzudenken, was es heißt, sittliche Freiheit zu haben. Heißt es, die Freiheit zu haben, das zu tun, was einem gefällt, sei es recht oder unrecht? Natürlich nicht. Es bedeutet, in einem solchen Maße vom Irrtum frei zu sein, daß man zwischen dem, was recht, und dem, was unrecht ist, zu unterscheiden vermag, daß man imstande ist, sich für das zu entscheiden, was recht ist, und sich zu weigern, das zu tun, was unrecht ist.
Aber auf gewissen Gebieten gibt es verschiedene Grade von Recht und Unrecht. Unter diesen Umständen haben wir sittliche Freiheit, wenn wir imstande sind, uns für das bessere von zwei relativ rechten Dingen und für das geringere von zwei relativ unrechten Dingen zu entscheiden.
Auf diese Weise erläutert Mrs. Eddy dieses Thema in einem Artikel über „Die Ehe“ in ihrem Buch „Vermischte Schriften“. Sie sagt auf Seite 288: „Bei menschlichen Handlungen beginnt die Weisheit mit dem nächst Rechten unter den obwaltenden Umständen, und von da aus vollbringt sie das unbedingt Rechte.“ Wenn wir „mit dem nächst Rechten unter den obwaltenden Umständen“ beginnen und auf dieser Basis fortfahren, erfüllen wir das moralische Gesetz und machen Fortschritte, bis wir „das unbedingt Rechte“ vollbringen.
Die andere Seite dieses Grundsatzes ist ebenso wichtig. Dabei handelt es sich darum, wenn nötig, zwischen Übeln zu wählen. „Nach der menschlichen Anschauung vom Guten“, schreibt Mrs. Eddy auf der nächsten Seite desselben Artikels, „müssen die Sterblichen zuerst zwischen Übeln wählen und von zwei Übeln das geringere wählen. Gegenwärtig scheint die Befolgung der wissenschaftlichen Richtlinien für das menschliche Leben auf dieser Grundlage zu beruhen.“
Die Christliche Wissenschaft [Christian Science] weist auf die Tatsache hin, daß die Moral nicht für sich allein betrachtet werden kann; sie muß in Verbindung mit dem Geistigen, das absolut ist, betrachtet werden. Wir gelangen zu einer höheren Auffassung von dem moralischen Gesetz, wenn wir darin die Anwendung des geistigen Gesetzes auf relative menschliche Zustände sehen. In dieser Weise betrachtet, beweist die Moral, daß das Gute dem Übel immer überlegen ist, bis das Übel nicht einmal mehr zu sein scheint.
Wenn wir unser geistiges Wesen als Kind Gottes auch nur ein wenig verstehen, wird unser Begriff von dem, was es heißt, sittliche Freiheit zu haben, bis zu dem Punkt erhoben, wo wir nicht beanspruchen, für uns selbst zu entscheiden, sondern wo wir nur das Gute wählen können und jede Suggestion des Bösen zurückweisen, in welcher Form es sich auch zeigen möchte.
Die Christliche Wissenschaft [Christian Science] enthüllt die Tatsache, daß wir, da unsere wahre Selbstheit geistig ist, in Wirklichkeit für die Täuschungen des Bösen nicht empfänglich sind. In seinem wahren Wesen ist der Mensch daher weder in einem siegreichen noch in einem verlorenen Kampf mit dem Bösen verwickelt. Er vergeudet kein Fünkchen Energie dafür, eine widerstreitende Macht oder einen gegnerischen Einfluß zu überwinden, weil so etwas gar nicht existiert. Daher ist er der Erschöpfung und dem schließlichen Tod nicht unterworfen. In dem Verhältnis, wie wir uns selbst mit diesem Menschen identifizieren, werden wir mit zunehmendem Erfolg unsere Fähigkeit beweisen, die Ansprüche des Bösen zu überwinden. Wir beweisen die Allheit des Guten dadurch, daß wir die Nichtsheit des Bösen beweisen.
Wenn wir an die Wirklichkeit und Macht des Bösen glauben, idetifizieren wir uns mit Eigenschaften, die nicht zu uns gehören, mit einer Selbstheit, die der Herrschaft des Bösen untersteht, einer Selbstheit, die schließlich vom Bösen überwunden werden wird. Aber eine solche Selbstheit besteht in Wirklichkeit nicht. Es ist unmöglich, zwei Selbstheiten zu haben, eine völlig gute und eine, die eine Mischung von gut und böse ist.
Dies wird in der allegorischen Veranschaulichung der zwei Bäume im Garten Eden, dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, zumindest angedeutet (siehe 1. Mose 2:9). Nur ein Baum ist wirklich, der Baum des Lebens. Von diesem Baum zu essen bedeutet, ewig zu leben. Dieser symbolische Baum stellt das Verständnis von der Einheit des Seins, der Allheit des Guten, dar. Auf dieses Verständnis bezog sich Jesus, als er sagte (Joh. 17:3): „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“
Durch Sittlichkeit, die sich auf Geistigkeit gründet, legen wir die Sterblichkeit ab. Wir nähern uns dem geistigen Leben, in dem wir das moralische Gesetz erfüllen, wodurch die Sterblichkeit überwunden, abgelegt wird. Wir können Geistigkeit ebensowenig durch den Tod erlangen, wie wir durch ihn die Sterblichkeit verlieren können. Sterblichkeit ist Tod. Geistigkeit ist Leben. In dem Verhältnis, wie wir die Sterblichkeit ablegen, nehmen wir in schrittweiser Auferstehung Geistigkeit an.
Wenn wir also glauben, sittliche Freiheit zu haben, sollten wir sicher sein, daß wir wissen, was wir tun. Der Feind — der materielle Sinn — möchte uns glauben lassen, daß wir die Freiheit hätten, das Böse oder das Gute zu wählen, ganz wie es uns beliebt. Aber das ist nicht wahr; das Böse ist unwirklich. Wir haben die Freiheit, uns stets und unter allen Umständen für das Gute zu entscheiden. Das ist unser geistiges Vorrecht.
Wir sind mit der wichtigen Aufgabe beschäftigt, uns zu entscheiden, das zu sein, was wir wirklich sind, nämlich unsterbliche Söhne und Töchter Gottes, und nicht länger zu glauben, wir seien, was wir nie gewesen sind: sündige Sterbliche. Dies ist die wirkliche Bedeutung der sittlichen Freiheit.
