Viele Menschen würden sagen, daß das Universitätsstudium in erster Linie dazu dient, die intellektuellen Fähigkeiten des Studenten zu entwickeln: es soll ihn mit der Fähigkeit ausstatten, selbst zu lernen, und alles, womit er in Berührung kommt, sachgerecht zu beurteilen. Das ist gewiß wertvoller und wertbeständiger als die Ausbildung für einen Beruf, obwohl auch das an der Universität seinen Platz hat.
Jedoch die Universität als eine „Pflegestätte des Intellekts“ zu bezeichnen, wie es zuweilen geschieht, ist streng genommen für einen Christlichen Wissenschafter nicht richtig. Eine bessere Bezeichnung wäre: Eine Umgebung, in der die uns angeborene Intelligenz entwickelt und besonders zum Lernen, Lehren und Forschen angewandt werden kann. Was menschlich gesehen der Intellekt zu sein scheint, zumindest seine angenehmeren Seiten, mag eine Kundwerdung der göttlichen Intelligenz sein. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science; sprich: kr’istjən s’aiəns., spricht oft mit Hochachtung von dem Intellekt an sich. Doch scheint der menschliche Intellekt etwas Persönliches zu sein; und in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ schreibt sie (S. 312): „Ein persönlicher Begriff von Gott und von den Fähigkeiten des Menschen muß den Glauben notgedrungen begrenzen und das geistige Verständnis hindern.“
Alle Christlichen Wissenschafter kennen bis zu einem gewissen Grade die unbegrenzte Vollkommenheit und Verfügbarkeit des göttlichen Gemüts. Daß es dem Studenten zu Gebote steht, ist für ihn bei seinem Studium ein unschätzbarer Vorteil, doch muß er es als sein Eigentum für sich in Anspruch nehmen. Es kann ihm weit mehr Befriedigung bringen und ihn zu weit größeren Leistungen führen als er je hoffen könnte, nur durch seine eigenen Bemühungen zu erlangen.
Wird das göttliche Gemüt als unser eigenes zur Anwendung gebracht, so bringt es Erleuchtung und Klarheit und erweitert das menschliche Verständnis. Mrs. Eddy schreibt (ebd., S. 250): „Geist ist das Ego, das niemals träumt, sondern alle Dinge versteht; das sich niemals irrt und das sich stets bewußt ist; das niemals glaubt, sondern weiß; das niemals geboren wird und niemals stirbt.“ Dieses unendliche Gemüt setzt uns zweifellos in die Lage, erfolgreich mit allen Problemen fertig zu werden, die unser Studium mit sich bringt. Im Strahlenglanz des göttlichen Gemüts verschwinden Schwierigkeiten ganz von selbst; und Gemüt hilft uns sowohl beim Studium der Naturwissenschaften als auch der Geisteswissenschaften.
Als Menschen müssen wir jedoch — manchmal beharrlich und mühsam — daran arbeiten, das Maß an Verständnis zu erlangen, das zur Lösung unserer Probleme erforderlich ist. Beim akademischen Studium steht uns Gemüt ohne unser Bemühen nicht immer, ja nur sehr selten zu Gebote. Unsere tägliche metaphysische Arbeit ist ein wichtiger Teil dieser Bemühungen. Wir sollten wissen, daß wir in Wirklichkeit eins sind mit dem unendlichen Gemüt, dessen Schöpfung völlig gut und harmonisch und geistig ist, und daß dieses Gemüt, unser wahres Gemüt, seine gesamte unermeßliche Schöpfung kennt und sie uns in aller Klarheit zeigen kann. Unwissenheit und Verwirrtsein sind irrige Annahmen: Wir können alles verstehen, was wir lernen müssen. Wenn wir es richtig verstehen, können wir es schwerlich vergessen.
Der mitunter gehörte Ausdruck: „Ich kenne meine Grenzen“, ist für einen Christlichen Wissenschafter nicht angebracht, denn er sollte wissen, daß sein wahres Ich keinen Begrenzungen unterliegt. Für ihn wäre solch eine Einstellung lediglich eine Entschuldigung dafür, daß er es unterläßt, seinen geistigen Horizont durch die Anwendung der ständig fortschreitenden und sich entfaltenden Ideen des Gemüts zu erweitern.
Ein weiterer Teil unserer Bemühungen ist ganz einfach das fleißige, gründliche, beharrliche und gewissenhafte Studium unseres akademischen Fachs. Hierfür gibt es keinen Ersatz; doch wenn wir uns täglich vergegenwärtigen, daß unser eigentliches Sein intelligent ist, so hilft das, Klarheit in unser Denken zu bringen, Zeitverschwendung und fehlgeleitete Bemühungen zu vermeiden und Zweifel, Furcht und Ermüdung beim Studieren auszuschalten.
Ein Großteil unserer akademischen Arbeit besteht darin, daß wir unser Wissen ordnen und die für uns neuen Begriffe analysieren. Die Naturwissenschaft ist als „die systematische Ordnung gewonnener Erkenntnisse“ bezeichnet worden; und diese Ordnung ist letzten Endes von der göttlichen Ordnung abgeleitet, die im Gemüt regiert, auch wenn die Erkenntnisse im Augenblick größtenteils materiell zu sein scheinen. In „Rückblick und Einblick“ schreibt Mrs. Eddy (S. 30): „Oft wird gefragt, warum die Christliche Wissenschaft [Christian Science] mir als die eine Intelligenz offenbart wurde, die das falsche Zeugnis der physischen Sinne, zergliedert, aufdeckt und vernichtet.“ In allen akademischen Fächern ist die Fähigkeit, zu analysieren, die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen und Mißverständnisse und Unrichtigkeiten aufzudecken, sehr wichtig.
Nur wenigen Leuten fällt das Studium durchweg leicht; oft verstehen wir eine Sache nicht beim ersten und auch noch nicht beim zweiten Versuch. Das sollte uns nicht entmutigen oder uns an unseren Fähigkeiten zweifeln lassen. Es geschieht sehr oft, daß wir eine Sache nicht sofort und auch nicht nach wiederholten Bemühungen verstehen; und es mag notwendig sein, die Sache einstweilen beiseitezulegen und in dem Wissen zu verharren, daß die Antwort da ist, daß Gemüt sie weiß und sie letzten Endes offenbaren wird.
Dies kann gut anhand der Erfahrung veranschaulicht werden, die der große französische Mathematiker Henri Poincaré machte, der in seiner Abhandlung „Mathematische Entdeckung“ erzählt, daß er sich bei drei verschiedenen Gelegenheiten vergeblich mit mathematischen Problemen abmühte. Jedesmal kam ihm dann etwas später, ohne daß er an die Aufgabe dachte, plötzlich die Lösung in den Sinn, und sie kam mit solcher Klarheit und war so vollständig, daß er keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit hatte. Als er sich dann hinsetzte, um die Lösung schriftlich nachzuprüfen, hatte er dabei keinerlei Schwierigkeiten.
Wir können die Folge dieses Ablaufs mit einem Gebet vergleichen, das nicht gleich erhört wird; dann jedoch kommt eine klare Offenbarung, der wiederum der Beweis folgt, daß die offenbarte Lösung stimmt. Poincaré weist ferner darauf hin, daß Ordnung und Harmonie Bestandteile des guten Rechnens sind und daß das Ego, das die Offenbarung herbeiführte — den wesentlichen Teil der neuen Entdeckung, die in jedem Fall einen wichtigen neuen Zweig der Mathematik darstellte —, diesen Sinn für Ordnung und Harmonie besitzt. Obwohl Poincaré dieses Ego nicht göttliches Gemüt nannte, kann doch kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß es an dem Wesen des Gemüts teilhatte.
Wenn wir regelmäßig auf die Inspiration des Gemüts Anspruch erheben, können wir manchmal ähnliche Erfahrungen machen. Die Wahrheit von Jesu Gebot und Verheißung (Matth. 7:7): „Suchet, so werdet ihr finden“, kann von jedem bei seinem Studium bewiesen werden. Und wenn wir immer mehr erkennen, daß dieses Gemüt unser ist, werden Aufgaben, die zuerst sehr schwer zu sein schienen, oft früher oder später viel leichter. Wenn wir die rechten intellektuellen Fähigkeiten — die Widerspiegelung göttlicher Intelligenz — anwenden und Gemüt als ihre Quelle anerkennen, nehmen sie zu und werden zu etwas Natürlichem.
Wenn der Student die Universität besucht, muß er darauf achten, daß seine Gedanken nicht „verkehrt werden hinweg von der Einfalt und Lauterkeit gegenüber Christus“, wie Paulus uns warnt (2. Kor. 11:3). Weltklugheit und Kompliziertheit sind keine Attribute des göttlichen Gemüts, sondern ein Irrweg des sogenannten menschlichen Geistes. Das englische Wort „sophistication“ — Weltklugheit — geht auf die alten griechischen Lehrer, die Sophisten zurück, die höchste Weisheit zu besitzen behaupteten; doch wie sich herausstellte, lehrten einige von ihnen, wie man durch listige und irreführende Argumente zu weltlichem Ruhm gelangt. Einige Sophisten leugneten sogar die Existenz der Wahrheit oder sagten, selbst wenn es die Wahrheit gäbe, könnte sie nie entdeckt oder anderen gelehrt werden.
Der moderne weltkluge Intellektuelle denkt auch oft, daß es keinen Gott gibt, und bietet das dar, was er eine tiefergehende und verfeinerte Lebensanschauung und Einstellung als die der gewöhnlichen Leute nennt. Solch eine Anschauung sollte den Christlichen Wissenschafter nicht irreführen. Sie ist das direkte Gegenteil einer fortgeschrittenen oder gereiften Anschauung, denn sie leugnet den Vater und die Mutter allen wahren Bewußtseins und ist im wesentlichen begrenzt und sterblich.
Es ist ein gewisses Maß an göttlicher, unendlicher Intelligenz und auch beharrlicher Arbeit notwendig, damit der Student in der Lage ist, die komplizierten und schwierigen akademischen Studien hinter sich zu bringen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, zu erkennen, wo unnötige Erschwernisse errichtet worden sind, und zwischen Einsicht in das Wahre und Spekulation zu unterscheiden.
Das akademische Studium sollte ein Teil der christlich-wissenschaftlichen Demonstration des Studenten sein, und nicht als etwas Weltliches oder etwas von Gemüt, Gott, Getrenntes angesehen werden. Der Student sollte der in den Sprüchen enthaltenen Regel folgen (3:5): „Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlaß dich nicht auf deinen Verstand.“ Wenn er das still und demütig tut, folgt er dem Beispiel des Meisters, der kein von Gott getrennten Gemüt oder keinen von Gott getrennten Willen kannte. Er wird in seinem Studium Erfolg haben; und er wird die Achtung und Zuneigung seiner Lehrer und seiner Kommilitonen gewinnen. Und wenn er die Intelligenz und Macht des Gemüts still unter Beweis stellt, wird er dazu beitragen, einen guten Einfluß auf das akademische intellektuelle Denken auszuüben, und das ist eine sehr einflußreiche menschliche Tätigkeit.