Ehren wir Gott, wenn wir körperlich oder seelisch leiden? Nein! denn was immer unsere Aufmerksamkeit auf den Körper, auf die Materie und die Materialität lenkt, verweigert Gott die Ehre, indem es uns glauben macht, daß es viele Götter und viele Gemüter gibt, Gutes und Böses, Geist und Materie, Gesundheit und Krankheit.
Der Glaube, Gott sende Leiden, um uns dauernd für Sünden zu züchtigen, die wir in der Jugend oder in späteren Jahren begangen haben, ist ein Überbleibsel entwachsener scholastischer Theologie. Diese Theologie stellt Gott als eine nachtragende, kaltherzige Person dar, die ihren eigenen Sohn umbringen läßt, um ihren Zorn über die sündige Menschheit zu besänftigen, die aber diese Menschheit trotzdem weiterhin sündig erhält und sie dafür mit Leiden bestraft. Diese Theorie ist nicht logisch und weicht stark von der Lehre der Christlichen Wissenschaft ab, die verkündigt, daß Gott Liebe ist, allwissendes Gemüt, das Prinzip des Seins. Wenn wir dieses richtige Verständnis von Gott gewinnen, werden wir erkennen, daß Sünde und Leiden nicht unumgänglich sind.
In ihrem Buch „Vermischte Schriften“ schreibt Mrs. Eddy (S. 362): „Wahrheit wird durch die Wissenschaft oder durch Leiden errungen. O törichte Sterbliche, welches von beiden soll es sein? Das Leiden trägt keinen Lohn in sich, es sei denn, daß es zur Verhütung der Sünde oder zur Bekehrung des Sünders notwendig ist.“
Wissenschaft oder Leiden! Wenn wir unser Verständnis von Gott willig weiter entfalten, weil wir einen Schimmer Seiner Allheit als das Prinzip des Seins erblickt haben, und wenn wir täglich das anzuwenden versuchen, was wir bisher gelernt haben, statt in Träumen über Persönlichkeit und bereits Erreichtem zu verweilen, werden wir nicht leiden. Leiden jeder Art ist immer nur eine Herausforderung, der wir begegnen müssen, eine Art Prüfung, die wir zu bestehen haben. Es ist ein Problem, das wir lösen müssen, anstatt uns ihm zu unterwerfen.
Würde es einem Studenten je einfallen, aus einem Examen auszuscheiden, nur weil er einmal eine Prüfung nicht bestanden hatte? Warum sollte denn jemand ein Leiden irgendwelcher Art tolerieren, nur weil er einmal einen Fehler begangen hatte, den er inzwischen bereut hat und nie wieder machen würde, der aber noch immer sein Gewissen belastet?
Was immer wir durch unsere fünf materiellen Sinne wahrnehmen können, jede physische Anziehung oder jede physische Abscheu, ist tierischer Magnetismus, ist eine ständige Versuchung, Gott die Ehre zu verweigern. Der tierische Magnetismus will uns nicht nur dazu bringen, dem Unwirklichen zu glauben und nachzufolgen, sondern er will auch, daß wir irgendeinen gemachten Fehler oder begangene Sünden in solch frischer Erinnerung behalten, daß sie auch weiterhin einen großen Platz in unserem Denken — und als Leid in unseren Gefühlen — einnehmen. Wie können wir vorwärts gehen, wenn wir ständig rückwärts schauen? Wurde nicht Lots Frau in eine Salzsäule verwandelt, weil sie auf Sodom, auf die Stadt der Sünden, zurückschaute?
Als ein Gichtbrüchiger zu Jesus gebracht wurde, sagte der Meister als erstes diese Worte (Mark. 2:5): „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Dann fügte er als Antwort auf die Einwände der verwunderten Schriftgelehrten, ob er das Recht hätte, Sünden zu vergeben, hinzu: „Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim!“ Jesus mochte wohl erkannt haben, daß der gichtbrüchige Mann vor allem der Versicherung bedurfte, daß Gott keine lebenslängliche Selbstverdammung verlangt, sondern daß die Sünde dann vergeben ist, wenn sie bereut und aufgegeben ist.
Heute wie damals droht die falsche Theologie dem Menschen mit ewiger Verdammung und lehrt, daß die Menschheit unweigerlich sündigen muß, um zu einem unbestimmten, weit entfernten Zeitpunkt einmal erlöst werden zu können. Diese Theorien haben die Menschheit in Leiden und Gleichgültigkeit getrieben, weil sie nicht die Kraft haben, den allgegenwärtigen erlösenden Christus zu demonstrieren, der jederzeit bereit ist, uns gerade jetzt aus unseren Nöten zu befreien.
Eine nüchterne Betrachtung dessen, was Sünde und ihre Bestrafung wirklich ist, mag nützlich sein. Sünde wird gewöhnlich als eine Tat angesehen, die man nach den Zehn Geboten und einer Liste von Gesetzen, die durch Dogma und Überlieferung aufgebaut worden sind, nicht hätte ausführen sollen. Wer schuldlos zu sein glaubt, weil er dem Buchstaben nach diese Anordnungen hält, läuft Gefahr, in Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit abzugleiten und sich des Meisters Tadel zuzuziehen (Matth. 23:25): „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig rein haltet, inwendig aber sind sie voll Raub und Gier!“
Diese harte Sprache entsprang Jesu ehrlichem Bestreben, jene Männer guter Absichten aus ihren selbstgefälligen doktrinären Annahmen aufzurütteln. Sie kann auch auf uns heute angewandt werden, denn wir müssen nicht nur unsere Liste von Verboten befolgen, sondern auch die Wurzel allen falschen Tuns ausmerzen, nämlich die Annahme von etwas neben Gott Bestehendem, die Annahme, daß sich das Gute und das Böse, Geist und Materie, Gesundheit und Krankheit, vermischen. Diese Annahme ist die verborgene Sünde, die unsere guten Bemühungen und Erfolge untergräbt und uns immer wieder zu Fall bringt. Jede Sünde, sowie jede Art von Leiden, ist nur die Folge der zugrundeliegenden Annahme, daß es neben Gott noch eine Ihm entgegengesetzte Macht gibt.
Die Strafe für die Sünde wird nicht durch den Zorn eines unendlichen, doch menschenähnlichen Gottes bestimmt. Wie überaus beschäftigt solch ein persönlicher Gott sein müßte! Da Gott das Prinzip ist, das alles Leben regiert, wird die Sünde ebenso automatisch bestraft, wie ein Rechenfehler ein falsches Resultat ergibt — ja das falsche Resultat ist die Strafe selbst, die früher oder später in Erscheinung tritt. Wenn wir wachsam und willig sind, jeden Fehler, selbst den allerkleinsten, sofort zu berichtigen, werden wir nicht die Folgen eines falschen Resultats erleiden müssen, weder im Leben noch in der Arithmetik. Oder, wie Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit“ sagt (S. 40): „Die Wissenschaft hebt die Strafe nur dadurch auf, daß sie erst die Sünde beseitigt, die die Strafe hervorruft. Das ist meine Auffassung von der göttlichen Vergebung, unter der ich Gottes Art und Weise der Zerstörung von Sünde verstehe.“
Hier mag jemand einwenden, daß Jesus gelitten hatte, obwohl er sündlos war. Ja, aber er, der seine Macht über Sünde, Krankheit, Tod und über jeglichen Anspruch der Materialität so konsequent bewiesen hatte, litt nicht so sehr unter körperlichem Schmerz als unter den Qualen bigotter Unwissenheit und dem Kummer über die Torheit der Menschen, an ihren alten materialistischen Annahmen festzuhalten, obwohl er sich so sehr bemüht hatte, ihnen die Notwendigkeit zu zeigen, sich aus diesen strafebringenden falschen Annahmen zu erheben.
Wer möchte nicht den Weg des Fortschritts ohne Leiden wählen? Es mag nicht der leichtere Weg sein, aber er ist bestimmt einträglicher und direkter. Mrs. Eddy sagt: „Entweder hier oder hiernach muß Leiden oder Wissenschaft alle Illusionen in bezug auf Leben und Gemüt zerstören, und der materielle Sinn und das materielle Selbst müssen wiedergeboren werden“ (ebd., S. 296). Wie töricht wäre es deshalb, in Leiden zu verweilen, wenn es uns freigestellt ist, jetzt die Wissenschaft zu wählen und unsere gottgegebene Herrschaft über alle Materialität jeden Tag ein wenig besser zu demonstrieren.
Schließlich werden wir jenes gesegnete Verständnis von des Menschen Einheit mit Gott erreichen, die Johannes erkannte, als er in der Offenbarung schrieb (21:3, 4): „Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
