„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (1. Mose 1:1). Zu diesem erhabenen Gedanken kehrten die Führer biblischer Zeiten immer wieder zurück, wenn sie sich mit der Forderung an ihr Volk wandten, an der unverbrüchlichen Treue zu Gott festzuhalten. Es ist logisch, daß die Genesis (was „Anfang“ bedeutet) ihren Platz als das einführende Buch in der Bibel einnimmt; es betont die Allerhabenheit Gottes, des Schöpfers, als „am Anfang“ oder „an erster Stelle“ stehend.
Der Bibelleser stößt bald auf Schwierigkeiten, wenn er einen chronologischen Aufbau verfolgen will, sei es in der Geschichte des hebräischen Volkes oder in dessen Religion. Ein geduldiges Forschen in der Heiligen Schrift enthüllt jedoch einen erstaunlich einheitlichen Aufbau ihrer Geschichte und darüber hinaus ihrer geistigen Botschaft. So wichtig der geschichtliche Aufbau auch ist, im Vergleich zu dem geistigen Ziel sind alle anderen Aspekte zweitrangig.
Die einzige Bibel, die Jesus und die ersten Christen hatten, war unser Altes Testament, das sie kannten und liebten. Obwohl Paulus im dritten Kapitel des zweiten Briefes an die Korinther erklärt, daß „das neue Testament“ (Vers 6, n. der engl. Bibel) „das alte Testament“ (Vers 14), wie er es nennt, ablösen werde, würde er zweifellos zugeben, daß nichts völlig an seine Stelle treten könnte.
Im Text unserer Bibel bleibt das Wort „Testament“ dem christlichen Zeitalter vorbehalten, aber die Wörter „Bund“ und „Testament“ sind als Synonyme auswechselbar und können den Begriff der Übereinstimmung zwischen dem Volk Israel und seinem Gott vermitteln. Im allgemeinen war man der Ansicht, daß dieser Vertrag mit Blut besiegelt werden mußte, dem Blut eines rituellen Opfers. Dieser ältere Begriff wird durch den neuen Bund ersetzt, und der Brief an die Hebräer stellt ihn als den „neuen und lebendigen Weg“ dar (10:20).
Vier grundlegende Schritte in der Entfaltung des Bundes konnten wie folgt zusammengefaßt werden: Noah erhält die Zusicherung von der Stabilität der Naturgesetze, durch den Regenbogen symbolisiert (siehe 1. Mose 9:8–17); Abraham erhält die Verheißung eines nationalen Erbes, dessen Zeichen die Beschneidung ist (siehe 1. Mose 15:18; 17:4–14); Israel erhält die Zusicherung nationaler Sicherheit, garantiert unter dem moralischen Gesetz, dem Gesetz Moses (siehe 2. Mose 20:1–17; 5. Mose 5:1–29); und schließlich ein neuer und allumfassender geistiger Vertrag — wie er von Jeremia vorausgesagt wurde —, wobei der Messias selbst die Garantie für die Erfüllung des göttlichen Gesetzes darstellt (siehe Jer. 31:31–33 und vergleiche Hebr. 10:16; Offenb. 21:7). Die fast zahllosen Hinweise auf das Wort „Bund“ in seinen vielen Aspekten weisen auf die Bedeutung dieser Idee hin, wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte entfaltete; die Reichweite der Offenbarung stimmt mit der Tatsache überein, daß sie nicht auf einmal gegeben wurde.
Die 39 Bücher des Alten Testaments stammen aus vielen unterschiedlichen Quellen. Sie sind das Werk zahlreicher Verfasser, die zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Gesichtspunkten und geographischen Punkten aus geschrieben haben, und spiegeln viele Einflüsse wider, sowohl nationaler wie internationaler Art. Da die Bücher redigiert, wiederum redigiert und zusammengestückt wurden, mag ihr genauer Ursprung wohl nie bekannt werden.
Das Alte Testament ist in einer Zeitspanne von 800 bis 1000 Jahren entstanden, obwohl die darin berichteten Ereignisse viel weiter in die Vergangenheit hineinreichen. Selbst einige der als Quellen erwähnten Bücher sind verlorengegangen. Die Archäologie und die sekulare Geschichte haben jedoch die Authentizität vieler Einzelheiten der Bibel bestätigt, während die Bibel wiederum dazu beigetragen hat, die Authentizität heutiger Entdeckungen zu bestätigen.
Was als die Textkritik bekannt ist, ist — wie der Ausdruck andeutet — das Studium des tatsächlich niedergeschriebenen Berichtes, ob in der Originalsprache oder in den Übersetzungen.
In unserer Bibel gibt es drei Hauptteile des Alten Testaments, die von der Anordnung in der hebräischen Bibel etwas abweichen. Der Pentateuch oder der fünffache Band von der Genesis bis zum Deuteronomium — die Bücher Mose genannt, weil sie hauptsächlich von ihm handeln — umfaßt, was die Hebräer die Thora oder „Das Gesetz“ nannten.
In dem Teil „Die Propheten“, oder Nebhiim, sind die Früheren Propheten inbegriffen — Josua, die Richter, Samuel und die Könige, Geschichtsbücher mit prophetischem Hintergrund — und die Späteren Propheten, Beiträge jener großen Seher von Jesaja bis Maleachi.
Zu dem dritten Hauptteil, „Die Schriften“ oder Hagiographa, gehört der Rest — die Psalmen, die Sprüche, Hiob und so weiter.
Wie das Alte Testament ursprünglich niedergelegt wurde, nahm es hauptsächlich in Gedichtform Gestalt an, und es wurde nur in Konsonanten geschrieben; die entsprechenden Vokale mußten von dem Leser hinzugefügt werden. Somit konnte eine bestimmte Gruppe von Konsonanten durch das Einsetzen verschiedener Vokale unterschiedlich gelesen und übersetzt werden. Daß die Genauigkeit und Reinheit der Botschaft des Alten Testaments bewahrt blieb, kann daher der Tatsache zugeschrieben werden, daß diese Schriften von uralten Zeiten an als die Überbringer des heiligen Wortes Gottes angesehen wurden. Ein Schreiber gab dazu folgenden treffenden Kommentar: „Die Sammlung heiliger Bücher war nicht die Grundlage des Glaubens an eine göttliche Offenbarung, sondern dessen Folge“ (A. M. Ramsey in Peake's Commentary on the Bible [Peakes Bibelkommentar], Ausgabe von 1962, S. 1).
Bei unserem Studium des Alten Testaments können wir nicht umhin, einen aufwärtsführenden Gedankengang zu erkennen, der in der Offenbarung des Wesens Gottes und des Menschen augenscheinlich wird. Hier reichen die Begriffe von Bekundungen eines primitiven Glaubens an die Beseeltheit der Natur, von Götzendienst und Volksüberlieferungen, wie sie in der Allegorie von Adam und Eva zu erkennen sind, bis zu dem fortschrittlichsten geistigen Denken aller Zeiten, wie es in dem Bericht der geistigen Schöpfung im ersten Kapitel der Genesis zu finden ist. Wie das Verständnis von Gott geistiger wurde, so veredelte sich auch der Begriff vom Menschen, Seinem Geschöpf.
Mit den Segnungen geistiger Erleuchtung kamen sowohl neue Herausforderungen und Versuchungen als auch größere Proben des Glaubens. Aber mit jeder wachsenden Notlage erschien auch ein Führer, der dem Kern der Gerechten — in der Prophetie als „die Übriggebliebenen“ bekannt — Ermutigung, Inspiration und die Verheißung der Erlösung brachte.
Während die Hebräer vom Götzendienst in seiner zum Teil erniedrigendsten Form umgeben waren, erwachte bei ihnen allmählich ein Hunger nach etwas Höherem. In diesem Verlangen nach Gott kamen ihnen viele Begriffe von der Gottheit in den Sinn, und folglich wurden viele Namen gebraucht, mit denen die Menschheit Ihn identifizieren konnte. Nach und nach begann sich die Struktur der Heiligen Schrift herauszuschälen, zusammen mit der Entwicklung der Nation des hebräischen Volkes. Lieder und Gedichte der Frühzeit priesen ihre Helden und deren Erfolge auf dem Schlachtfeld. Später erschienen Berichte über andere Ereignisse und noch später höher entwickelte ethische und religiöse Lehren. Durch die ganze Bibel zieht sich jedoch der Faden geistiger Bestimmung und eine ehrfurchtsvolle und dankerfüllte Haltung gegenüber dem allmächtigen Gott.
Wenn wir an die Höhere Kritik, oder die Analyse des Alten Testaments herangehen, können wir die hervorragenden und inspirierten Führer nur mit großer Bewunderung betrachten. Ihre Erkenntnis und Einsicht entfalteten sich zu der klaren Schau und dem Mut, die von ihnen gefordert wurden, als sich die Nation aus den Schatten der Materialität zu einem aufdämmernden geistigen Bewußtsein erhob. Obwohl sich die Hebräer als „das auserwählte Volk“ betrachteten, unterlagen sie doch den fremden Einflüssen um sie her; sie rebellierten wiederholt gegen ihre Führer und ihren Gott und waren dem Leiden und der Verbannung ausgesetzt, denen die unvermeidliche Notwendigkeit für Reue und Umwandlung folgte. Sie mußten unablässig an ihre Geschichte und ihre Überlieferungen erinnert und von Priestern oder Propheten zum Gehorsam gegen ihren erwählten Gott, ihren Erlöser, den Gott Israels, zurückgeführt werden.
In der Entwicklung des Alten Testaments und in seiner Vorbereitung auf das Neue bringt das abschließende Kapitel des Buches Maleachi — obgleich Maleachi chronologisch nicht das letzte Buch im Kanon ist — den Höhepunkt der Offenbarung zum Ausdruck (3:20): „Euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln.“
