Unabhängigkeit beruht auf Abhängigkeit. Klingt diese Behauptung widersinnig? Zuerst vielleicht ja; forschen wir aber tiefer, dann sehen wir, daß sich die Unabhängigkeit eines einzelnen Menschen oder einer Nation in einem gewissen Maße stets auf die Abhängigkeit von Gott, dem göttlichen Prinzip, gründet. Wahre Freiheit muß, individuell oder kollektiv gesehen, auf Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit beruhen, auf Eigenschaften, die beide ihren Ursprung im göttlichen Gemüt haben.
Wer erkennt, daß er ganz und gar von dem schöpferischen Prinzip, das ihn gestaltet, abhängt und dann im täglichen Leben die Konsequenzen dieser Beziehung auf sich nimmt, ist wahrlich ein freier Mensch. So ist auch das Volk am freiesten, in dem der größte Teil der Bevölkerung in einem gewissen Grade die Herrschaft Gottes anerkennt und sich bemüht, Gerechtigkeit und Anstand in seinen privaten und öffentlichen Angelegenheiten zum Ausdruck zu bringen.
Durch das Studium der Christlichen Wissenschaft können wir lernen, wie wir wahre Unabhängigkeit gewinnen. Diese Wissenschaft lehrt, daß Freiheit nicht auf die gleiche Stufe mit eigenwilliger Zügellosigkeit oder kaltem Egoismus gestellt werden darf, die die Rechte und das Wohlergehen anderer mißachten. Ein solches Verhalten würde Knechtschaft, nicht Freiheit bedeuten. Es würde auf eine Abhängigkeit von den materiellen Mitteln und Wegen hindeuten, die uns als den individuellen Ausdruck des unendlichen Seins, oder der göttlichen Liebe, unseres geistigen Geburtsrechts beraubt. Mrs. Eddy schreibt: „Der Mensch regiert sich eigentlich nur dann selbst, wenn er sich von seinem Schöpfer, der göttlichen Wahrheit und Liebe, richtig leiten und regieren läßt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 106 ;
Christus Jesus war der unabhängigste Mensch, der je gelebt hat. Er wagte, anders zu sein. Er hatte den Mut, sich von den Sitten und Gebräuchen seiner Mitmenschen loszusagen und ein Leben enger Gemeinsunendlichaft mit Gott zu führen. Der Meister erkannte das göttliche Gemüt als das „Ich“, das von seiner wirklichen Identität widergespiegelt wurde, als das göttliche Prinzip all seines Denkens und Handelns. Für die Menschen um ihn her zeigte sich diese unbedingte Abhängigkeit von Gott darin, daß er grenzenlose Macht hatte, materielle Zustände zu beherrschen. Sie sahen eine Unabhängigkeit von einschränkenden, materiellen Gesetzen und eine Erhabenheit darüber, die in der ganzen Geschichte einzigartig waren. Im Markusevangelium heißt es: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und Sprachlose reden.“ Mark. 7:37;
Jesu Worte und Werke zeigen uns, daß man unabhängige Selbstregierung nicht durch eine persönliche, materielle Auffassung von sich selbst erreichen kann. Der wirkliche Mensch ist nicht ein frei Handelnder mit einem eigenen Gemüt und Leben. Er ist die Widerspiegelung Gottes, des einzigen Gemüts oder Lebens. Wir erlangen eine überlegte, disziplinierte Selbstregierung, wenn wir klar erkennen lernen, daß das göttliche Gemüt unendlich, Alles ist und daß unsere wirkliche Identität in diesem Gemüt lebt, und zwar als eine vollkommen gesteuerte Idee, als ein deutliches, einzigartiges Beispiel für den subjektiven Zustand des Gemüts. Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy, heißt es: „Leben ist, war und wird stets von der Materie unabhängig sein; denn Leben ist Gott, und der Mensch ist die Idee Gottes, er ist nicht materiell, sondern geistig gestaltet und nicht dem Verfall und dem Staube unterworfen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 200;
Geistiges Heilen wird zur wissenschaftlichen Möglichkeit, wenn wir lernen, daß die Materie in jeder Form und Verfassung — belebt, leblos, krank, verdorben — ein Produkt des menschlichen Gemüts ist, ein Irrtum, der durch geistig erleuchtetes Denken beherrscht und richtiggestellt werden kann. Wenn wir unsere Unabhängigkeit von allen materiellen Voraussetzungen standhaft behaupten, entweder als Ursache einer Krankheit oder als Heilmittel, und dann unsere totale Abhängigkeit von dem einen Harmonie erzeugenden göttlichen Prinzip beanspruchen, können wir die wiederherstellende Macht der Wahrheit beweisen.
Dieser heilende Einfluß ist von Zeit und Raum unabhängig, denn die Macht des einen harmonischen Gemüts ist immer gegenwärtig. Mrs. Eddy erklärt dies so wunderbar, wenn sie schreibt: „Gemüt ist nicht an Grenzen gebunden; und nichts als unsere falschen Zugeständnisse hindert uns daran, diese große Tatsache zu beweisen. Die Christliche Wissenschaft, die das Vermögen des Gemüts, durch sich selbst und unabhängig von der Materie zu wirken, anerkennt, befähigt uns, Fälle zu heilen, ohne den Patienten überhaupt gesehen zu haben — oder nachdem wir mit seiner mentalen Verfassung nur bekannt gemacht worden sind.“ Vermischte Schriften, S. 42;
Wahre Unabhängigkeit besteht also nicht darin, daß wir unsere besonderen Wünsche und Meinungen eigenwillig durchsetzen. Sie ist vielmehr das Ergebnis liebevoller Zusammenarbeit, Aufgeschlossenheit, Belehrsamkeit. Diese Haltung harmoniert mit dem Wesen Gottes. Sie vereint uns, was die Qualität anbelangt, mit dem liebenden Gemüt und vermittelt uns einen inneren Aufschwung, der von äußeren Umständen gänzlich unabhängig ist.
Sich des Christus, der Wahrheit, bewußt zu sein befriedigt wie nichts anderes. Paulus schreibt im Hinblick auf die Christus-Idee: „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr habt diese Fülle in ihm, welcher ist das Haupt aller Reiche und Gewalten.“ Kol. 2:9, 10. In dem Grade, wie diese geistige Vollständigkeit erreicht wird, hebt sie uns in bezug auf Gesundheit und innere Befriedigung über die Abhängigkeit von der Materie hinaus. Sie offenbart das Himmelreich in uns, die wahre Unabhängigkeit, die uns die Liebe verleiht.
