Der Streit um die Einhaltung des Sabbats nimmt einen bedeutenden Platz in den Evangelien ein. Den Regeln und Vorschriften für den Sabbat, wie die Rabbiner sie auslegten, wurde viel Beachtung geschenkt. Edersheim faßt seine Kommentare zu den sehr langen und ausführlichen Sabbatverboten, die von den jüdischen religiösen Führern befürwortet wurden, folgendermaßen zusammen: „So sehen die hauptsächlichen Bestimmungen aus, mit denen das Rabbinertum das einfache Sabbatgebot, wie es in der Bibel wiedergegeben wird, erweitert und — in seinem eifrigen Bestreben, dessen strikte Einhaltung zu gewährleisten — die geistige Bedeutung des Ruhetages in einen komplizierten Kodex äußerlicher und lästiger Riten verdreht hat“ (The Life and Times of Jesus the Messiah, II, 787).
Es ist nicht klar, wo Christus Jesus zu jener Zeit war. Lukas (13:22) berichtet lediglich, daß er „seinen Weg nach Jerusalem“ nahm. Aber war er nun in Judäa, auf dem Wege nach Jerusalem, oder jenseits des Jordans in Peräa? Wie dem auch sei, „er lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da, die hatte einen Geist der Krankheit achtzehn Jahre, und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten.“ Ihre augenblickliche Befreiung aus der körperlichen Knechtschaft erweckte den Unwillen des Obersten der Synagoge, weil die Heilung am Sabbattag stattgefunden hatte. Er sagte zum Volk: „Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an ihnen kommt und laßt euch heilen, aber nicht am Sabbattage.“ Wenn aber, worauf der Meister hinwies, der jüdische Brauch die humane Behandlung von Haustieren am Sabbat zuließ, sollte dann nicht jemand aus dem eigenen Volk am Sabbattag von einer Mißbildung, die ihn zum Krüppel machte, erlöst werden? Seine Gegner waren beschämt, aber die freudigen Ausrufe der geheilten Frau fanden im versammelten Volk ihren Widerhall. (S. Luk. 13:10–17; vgl. 2. Mose 20:8–11; 5. Mose 5:12–15.)
Lukas berichtet dann von einigen der vielen ernsthaften Versuche des Nazareners, dem Volk zu erklären, was das Himmelreich ist. Kleine Ursachen haben großen Wirkingen, sei es nun in Form einer äußeren Entwicklung, wie es z. B. an dem Wachstum eines Senfkorns ersichtlich ist, das zu einem Baum wird, oder sei es ein verborgenes Geschehen wie das unsichtbare Wirken des Sauerteigs beim Backen (s. 13:18–21).
Das Johannesevangelium legt den Ort für die nächste Episode fest. „Es ward aber Tempelweihe zu Jerusalem und war Winter. Und Jesus wandelte im Tempel in der Halle Salomos“ (10:22, 23). Dies war ein frohes Fest, das jedes Jahr Ende November, Anfang Dezember, ungefähr zwei Monate nach dem Laubhüttenfest, gefeiert wurde. Es war für die Juden eine Gedenkzeit zur Erinnerung an die Reinigung des Tempels und die Neueinweihung des Altars im Jahre 165 v. Chr., nachdem er drei Jahre zuvor von Antiochus Epiphanes entweiht worden war.
Hier, in der „Halle Salomos“, einer überdachten Säulengalerie, die sich an der Ostseite des äußeren Vorhofs der Heiden erstreckte, wurde Jesus von seinen Gegnern aufgefordert, öffentlich hervorzutreten und zu verkünden, daß er der Messias sei, wenn er tatsächlich diesen Titel für sich beanspruchen konnte. Wie Johannes uns erzählt, hatte Jesus zu der Samariterin und dem Blindgeborenen andeutungsweise davon gesprochen, aber anscheinend hatte er sich, als er im Tempel lehrte, noch nicht öffentlich und direkt als der Christus zu erkennen gegeben, obwohl seine Werke seine Stellung hätten bestätigen sollen (s. 4:25, 26; 5:36; 9:35–37).
Dann bediente er sich wieder des vertrauten Beispiels von der engen Beziehung zwischen dem Hirten und seinen Schafen, die seine Stimme kennen und ihm willig folgen. Er sagte von diesen treuen Nachfolgern: „Der Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins“ (10:29, 30).
Solch eine Erklärung wurde sofort als Gotteslästerung ausgelegt, und er lief Gefahr, von der verärgerten Menge gesteinigt zu werden. Er hatte nicht behauptet, Gott selbst zu sein, aber er war tatsächlich Gottes Sohn (s. Vers 31–38; vgl. 3. Mose 24:16).
Er entging ihren Versuchen, ihn zu greifen, und zog wieder über den Jordan an einen Ort, in dessen Nähe Johannes der Täufer früher gewirkt hatte, und er „blieb allda“.
Wenn wir uns nun wieder dem Lukasevangelium zuwenden (s. 13:22), stellen wir fest, daß Jesus auf dem Wege nach Jerusalem seine Lehrtätigkeit fortsetzt. Seine Aufforderung: „Ringet danach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet“ ähnelt früheren Lehren. Disziplin ist noch immer für die wichtig, die in das Reich Gottes eingehen wollen. Bloßer Kontakt mit dem Meister wird ihnen keinen Platz im Himmelreich verschaffen. Es werden viele Menschen aus allen Richtungen kommen, zusammen mit den Erzvätern und Propheten der alten Zeit. Raum, Zeit und menschliche Rangordnung sind weder eine Hilfe noch ein Hindernis für die Erkenntnis des Himmelreichs. (S. Vers 24–30.)
Lukas berichtet, daß die Pharisäer Jesus dringend rieten, die Gegend zu verlassen, da Herodes ihn zu töten beabsichtige. Dies mag eine aufrichtige und freundliche Geste seitens der Pharisäer gewesen sein, die ihm wohlwollend gesinnt waren — was einige sicherlich waren, vor allem Nikodemus und Joseph von Arimathia —, aber der Meister machte dort weiter, wo er war, und ließ sich von seinem Werk nicht abhalten. Er war sich der Gefahr bewußt, die in Jerusalem auf ihn lauerte, aber er sehnte sich noch immer danach, das herrliche geistige Erbe jener Stadt den Voraussagen der Propheten gemäß zu verwirklichen. Er konnte aber noch nicht dorthin zurückkehren: „Ihr werdet mich nicht sehen, bis daß die Zeit komme, da ihr sagen werdet: Gelobt ist, der da kommt im Namen des Herrn!“ (S. Vers 31–35.)
Als Jesus einmal an einem Sabbat bei einem Pharisäer zum Essen eingeladen war, wahrscheinlich in Peräa, und dabei einen Wassersüchtigen heilte, bot sich ihm die Gelegenheit zu weiteren Unterweisungen über die wahre Bedeutung der Einhaltung des Sabbats. Wenn die anwesenden Schriftgelehrten und Pharisäer am Sabbattag ein Tier vor dem Ertrinken retten würden, würden sie dann nicht auch einem Menschen in Not helfen? In dem darauffolgenden Gespräch erzählte der Meister noch weitere seiner berühmten Gleichnisse. Seine Geschichte von dem Hochzeitsfest veranschaulichte die Notwendigkeit wahrer Demut. Ein weiteres Gleichnis von Gästen, die zum Essen geladen waren, machte klar, daß Großzügigkeit und Gastfreundschaft denen entgegengebracht werden sollten, die sie nicht erwidern können. Das Fest, zu dem Gäste geladen waren, zu dem sie aber nicht kamen, veranschaulichte Israels Weigerung, das Kommen des Messias ernst zu nehmen (s. Luk. 14:1–24).
Hier, wie so viele andere Male, wird berichtet: „Es ging aber viel Volks mit ihm“ (Vers 25). Wer jedoch ein Jünger Jesu sein wollte, mußte, wie Jesus betonte, bereit sein, sich von den Banden menschlicher Verwandtschaft zu lösen. Wie jemand, der einen Turm baut oder über ein Volk herrscht, so muß auch jeder einzelne die Kosten überschlagen, damit er darauf vorbereitet ist, sein hohes Ziel zu erreichen, ohne schwach oder so wertlos zu werden wie Salz, das seine Würze verloren hat (s. Vers 26–35).
Im nächsten Kapitel schildert Lukas drei der großen Gleichnisse des Meisters, deren er sich bedient haben soll, als „Zöllner und Sünder“ gekommen waren, um ihn zu hören (s. 15:1–32). Die Zöllner waren diejenigen, die für Rom die Steuern einzogen, und deshalb konnten sie in den Augen ihrer Landsleute den „Sündern“ gleichgestellt und als „verloren“ betrachtet werden.
In jedem der Gleichnisse ist es ein Grund zur Freude, wenn das Verlorene wiedergefunden wird. Der Hirte freut sich, daß er das eine Schaf, das sich von der Herde entfernt und verirrt hatte, wiedergefunden hat; die Frau freut sich, daß sie den einen Groschen, den sie verloren hatte, wiedergefunden hat; der Vater freut sich über die Rückkehr seines Sohnes. In jedem Gleichnis wird der tatsächliche Wert des einzelnen klargemacht.
