Das Passah, das höchste religiöse Fest im hebräischen Kalender, nahte, und die Menschen kamen aus allen Richtungen zu diesem Ereignis nach Jerusalem.
Im Laufe der vielen Generationen seit der Nacht des Auszugs der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten, zu dessen Gedächtnis das Passahfest begangen wurde, waren mehrere Neuerungen zu der alten Zeremonie hinzugekommen. Verschiedene Riten der Reinigung waren hinzugefügt worden. Das ursprüngliche Fest, das hauptsächlich eine Familienangelegenheit gewesen war, hatte sich zu einer Feier entwickelt, die im Heiligtum abgehalten wurde, und dazu kam das siebentägige Fest der ungesäuerten Brote. Und Menschen ohne Zahl fanden einen guten Grund für diese jährliche Pilgerfahrt im Frühling zu dem verehrten Schrein, dem Tempel.
Würde Jesus zu dem Fest kommen? Viele müssen diese Frage gestellt haben. Die zunehmende Feindseligkeit seiner Gegner erreichte einen gefährlichen Punkt. Religiöse und politische Führer hatten beschlossen, seiner Tätigkeit durch Gefangennahme Einhalt zu gebieten, und der Nazarener war sich der Gefahren wohl bewußt, denen er sich durch seine Rückkehr nach Jerusalem aussetzte. Johannes schreibt: „Da standen sie und fragten nach Jesus und redeten miteinander im Tempel: Was dünkt euch? Wird er wohl kommen auf das Fest? Es hatten aber die Hohenpriester und Pharisäer ein Gebot ausgehen lassen: wenn jemand wüßte, wo er wäre, solle er's anzeigen, damit sie ihn greifen könnten“ (11:56, 57).
Johannes, der die Aufmerksamkeit auf die bevorstehenden Ereignisse in Jerusalem gerichtet hält, sagt: „Sechs Tage vor Ostern kam Jesus nach Bethanien, wo Lazarus war, welchen Jesus auferweckt hatte von den Toten“ (12:1). Die Neugierde, Lazarus zu sehen, sowie das Interesse für den, der ihn von den Toten auferweckt hatte, brachte viele Menschen nach Bethanien. Beunruhigt über die Wirkung, die die Auferweckung des Lazarus auf das Volk hatte, suchte die Obrigkeit jedoch nach Mitteln, um auch ihn zu töten (s. Vers 9—11).
Diejenigen, die sich fragten, ob der Meister zum Passahfest in Jerusalem sein würde, erhielten bald die Antwort.
Als Jesus von Bethanien kam, das ungefähr zwei Kilometer entfernt war, näherte er sich der Stadt von Osten, über den Berg bei Bethphage, in der Nähe des Ölbergs. Von dort sandte er zwei seiner Jünger in das Dorf, wo sie ein Eselsfüllen angebunden vorfinden würden. Sie sollten das Tier zu ihm bringen, und wenn jemand sie fragte, sollten sie antworten: Der Herr (d. h. der Meister) bedarf sein. Matthäus, der wie bei anderen Gelegenheiten darauf bedacht war, daß seine Leser die Erfüllung der hebräischen Prophezeiung erkannten, flicht in seinen Bericht eine Stelle aus dem Propheten Sacharja (9:9) ein: „Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.“ Diese Prophezeiung, die auch von Johannes zitiert wird, wirft aufschlußreiches Licht auf die Art und Weise, wie Jesus seinen triumphalen Einzug hielt. Der Messias kam demütig und friedlich (s. Matth. 21:1—11; Mark. 11: 1—10; Luk. 19:29—40; Joh. 12:12-19).
Die Menschen hatten schon lange auf den von den Propheten vorausgesagten königlichen Messias gewartet, und dies erweckte nun zumindest den Anschein von Prunk, den sie mit seinem Kommen verbanden. Ihre Freude kannte keine Grenzen. Diejenigen, die den Meister von Bethanien an begleitet hatten, begegneten einer großen Menschenmenge, die ihnen aus Jerusalem entgegenkam, als sie von seiner Ankunft hörte. Sie breiteten ihre Kleider vor ihm auf der Erde aus, schwenkten Palmzweige als Zeichen des Sieges und streuten sie vor ihm auf den Weg. Als sie den Ölberg hinabstiegen, schrie das Volk, „das ihm voranging und nachfolgte ... und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Durch den Ausdruck „Sohn Davids“ wurde Jesus als der Messias anerkannt. Als aber die Prozession in die Stadt kam, herrschten dort weniger erhobene Erwartungen. Auf die Frage: „Wer ist der?“ kam die Antwort von der Menge: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa“ (s. Matth. 21:9—11).
Solch ein Ausbruch begeisterter Unterstützung, in den sogar die Kinder mit einstimmten, konnte nicht unbeachtet bleiben, und den Pharisäern muß es so vorgekommen sein, als ob ihr Ansehen und ihre Autorität bis in die Grundfesten erschüttert würden. Einige von ihnen suchten Jesus zu überreden, diese öffentliche Huldigung zu dämpfen. Aber auf ihren Rat: „Meister, wehre doch deinen Jüngern!“ antwortete er, daß es nichts nützen würde, denn, wie er sagte, „wenn diese werden schweigen, so werden die Steine schreien“ (Luk. 19:39, 40). Johannes berichtet, daß andere untereinander sagten: „Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach!“ (12:19.) Angesichts solch offenkundiger Feindseligkeit und deutlichen Mißverständnisses seiner Mission ist die folgende Bemerkung des Lukas kaum verwunderlich: „Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt an und weinte über sie“ (19:41).
Anstatt in der belebten, geschäftigen Stadt zu bleiben, zogen sich Jesus und seine Jünger, als es Abend wurde, wieder in das stille Bethanien zurück, wo sie die Nacht verbrachten (s. Matth. 21:17; Mark. 11:11).
Auf ihrem Weg nach Jerusalem am folgenden Tag, dem Montag der allgemein als Passionswoche bekannten Woche, kamen Jesus und seine Jünger an einem Feigenbaum vorbei, der an der Straße stand. Da sich zuerst die Frucht bildet, kann man damit rechnen, daß ein belaubter Feigenbaum reife Frucht trägt. Matthäus sagt: „Als er aber des Morgens wieder in die Stadt ging, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum an dem Wege und ging hinzu und fand nichts daran als allein Blätter und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr Frucht! Und der Feigenbaum verdorrte alsbald“ (21:18, 19).
Als der Meister in die Stadt kam, ging er offenbar sofort zum Tempel. Wie Johannes berichtet (s. 2:13—17), hatte er zu Beginn seines Wirkens die Wechsler und andere aus dem heiligen Bezirk vertrieben. Nun erwähnen die synoptischen Evangelien solch eine Reinigung gegen Ende seiner Laufbahn (s. Matth. 21:12, 13; Mark. 11:15—17; Luk. 19:45, 46).
Dies brauchen nicht verschiedene Versionen desselben Vorfalls zu sein. Einige haben in dieser zweiten Reinigung eine bestimmtere Geltendmachung seiner messianischen Autorität gesehen. Und in der Zwischenzeit könnten seine strengen Worte in Vergessenheit geraten oder nicht beachtet worden sein. Wie berichtet wird, zitiert er bei dieser Gelegenheit bezeichnenderweise aus den Propheten: „Steht nicht geschrieben:, Mein Haus soll heißen ein Bethaus allen Völkern‘? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht“ (Mark. 11:17; vgl. Jes. 56:7; Jer. 7:11).
Wie wohl zu erwarten war, steigerte diese Handlung sowie Jesu weiteres Lehren täglich die schon bittere Gegnerschaft der Hohenpriester und Schriftgelehrten. Wegen der weitverbreiteten öffentlichen Unterstützung, die der Meister genoß, konnten sie jedoch vorläufig nichts unternehmen (s. Luk. 19:47, 48).
