Tarsus, die Stadt, in der Paulus seine Kindheit verbrachte, hatte eine strategische Position im Mittelmeerraum.
Einige Kilometer landeinwärts lag die sogenannte Cilicische Pforte, ein enger Paß, durch den sich der gesamte Verkehr über das Taurusgebirge hinweg abwickeln mußte. Westlich von diesem Paß lagen Ephesus, Korinth und andere bedeutende Städte der griechisch-römischen Welt. Nach Süden und Osten hin erstreckte sich die semitische Welt, Syrien und Damaskus, Palästina und Jerusalem. So stand Tarsus Wache an dieser Pforte, an der Grenze zwischen zwei mächtigen Zivilisationen: an der Grenze zwischen denen, die Griechisch als Muttersprache hatten, und denen, deren Muttersprache Hebräisch oder Aramäisch war. Wie natürlich doch die Sprachen des Alten und Neuen Testaments in Tarsus miteinander in Berührung kamen und sich vermischten! Es ist gewiß kein Zufall, daß dies die Stadt des Paulus war, der mehr als jeder andere christliche Schreiber getan hat, um der heidnischen Welt den wahren Geist der hebräischen Schriften zu bringen.
Tarsus war nicht nur eine größtenteils griechische Stadt mit möglicherweise einhunderttausend Einwohnern, von denen eine große Anzahl jüdisch waren, sondern es war auch die Hauptstadt einer römischen Provinz. Es wurde also von drei Kulturen beeinflußt: der hellenistischen, hebräischen und römischen. Es ist kaum verwunderlich, daß Paulus stolz davon sprach, „Bürger einer namhaften Stadt“ zu sein (Apg. 21:39).
Im Leben und Werk des Apostels läßt sich das ständige Wechselspiel ebendieser drei Einflüsse erkennen. Er war sowohl ein strikter und eifriger Pharisäer als auch römischer Bürger, obgleich er in einer griechischen Umwelt großgezogen worden war; vor allem aber wurde er ein leidenschaftlicher Anhänger des Christentums und dessen bedeutendster missionierender Apostel. Dieser eine Satz wirft eine Anzahl von Fragen auf. Wie konnte ein Pharisäer römischer Bürger sein? Welchen Einfluß hatte seine römische Staatsangehörigkeit auf seinen Werdegang? Inwieweit war Paulus in seiner Erziehung griechischen Einflüssen ausgesetzt? Konnte ein Christ Pharisäer bleiben?
Paulus behauptete, von Geburt römischer Bürger zu sein; in dem biblischen Bericht wird jedoch nicht erklärt, wie es dazu gekommen war. Tarsus war als eine freie Stadt bekannt, die ihre eigenen Gesetze und Beamten hatte; allein die Tatsache, daß er in Tarsus geboren war, würde ihn also nicht zu einem römischen Bürger machen. Vielleicht hatte Paulus' Vater oder Großvater diese erbliche Ehre für einen Dienst erhalten, den er einem hohen römischen Beamten erwiesen hatte. Oder es mag sein, daß sein Vater wie der in der Apostelgeschichte 22:28 erwähnte Oberhauptmann das Bürgerrecht gekauft hatte. Oder Paulus' Vorfahren waren vielleicht unter den Juden gewesen, die in den verschiedenen Kriegen gefangengenommen und später frei gesetzt worden waren und das römische Bürgerrecht erhalten hatten.
Ein Römer zu sein war eine große Ehre und brachte gewisse Vorrechte mit sich: er war von der Strafe der Kreuzigung und Geißelung ausgenommen und hatte das Recht, sich auf den Kaiser zu berufen. Wie Paulus jedoch selbst aufzeigt, waren seine Rechte als Römer bei acht verschiedenen Gelegenheiten verletzt worden, ehe er von seinem Recht, sich auf den Kaiser zu berufen, Gebrauch machte, denn wir lesen: „Von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger einen; ich bin dreimal mit Ruten geschlagen“ (s. 2. Kor. 11:24, 25).
Dieser Bericht ließe sich damit erklären, daß die römischen Behörden nachlässig oder korrupt gewesen sein konnten, selbst wenn es sich um ihre eigenen Bürger handelte, während die jüdische Obrigkeit dazu neigte, die Immunität eines römischen Bürgers, der Jude war und unter ihre Gerichtsbarkeit fiel, nicht zu beachten. Man könnte aber auch daraus schließen, daß Paulus nicht bereit war, in Anwesenheit der Juden seine besonderen Privilegien als Römer zu beanspruchen, ausgenommen in einem Augenblick äußerster Not, als z. B. seine Landsleute seine Hinrichtung forderten (s. Apg. 22:22, 25).
Das braucht nicht zu bedeuten, daß er sich als Jude seines römischen Bürgerrechts schämte. Es scheint für einen Juden, selbst einen Pharisäer, im ersten Jahrhundert ebensowenig verräterisch gewesen zu sein, diese Ehre anzunehmen, wie es für einen Juden heutzutage verräterisch ist, Bürger irgendeines Landes zu sein. Paulus' römisches Bürgerrecht stand keineswegs im Widerspruch zu seiner stolzen Behauptung, von reinster jüdischer Abstammung zu sein (s. Phil. 3:5).
Daß der Apostel sowohl Bürger der Stadt Tarsus als auch des Römischen Reiches war, wirft ganz natürlich die Frage auf, was für einen Einfluß das griechische Gedankengut und die griechischen Sitten auf ihn ausgeübt haben, denn Tarsus blieb im Grunde eine griechische Stadt, wenn es auch Hauptstadt einer römischen Provinz war. Paulus muß einiges Ansehen in der Stadt genossen haben, denn wie man aus der Bemerkung eines früheren Schreibers schließen kann, besaß die Mehrheit der Tarser nicht das römische Bürgerrecht.
Tarsus war schon eine Zeitlang Sitz einer einflußreichen Philosophenschule und Universitätsstadt gewesen. Der Geograph Strabo sagte über die Einwohner, daß sie „in ihrer Begeisterung für dieses Fach [die Philosophie] die Athener und Alexandriner und jede andere Stadt, die erwähnt werden könnte, übertroffen haben“. Ob diese Behauptung übertrieben war oder nicht, Tarsus war ebenso unvergleichlich in intellektueller Hinsicht wie es wohlhabend war, und es war ein internationales Zentrum.
Es wäre wirklich eigenartig gewesen, wenn die griechische Kultur in dieser großen Stadt mit ihren geschäftigen Märkten und berühmten Schulen, wo Paulus seine frühen Jahre verbrachte, nicht selbst bei dem Sohn eines Pharisäers einen gewissen Eindruck hinterlassen hätte. Er muß schon frühzeitig die griechische Sprache sowie das Aramäisch und Hebräisch seines eigenen Volkes gelernt haben (s. Apg. 21:37–40). Seine Briefe wurden später in griechisch geschrieben, und immer wieder zitierte er Stellen aus der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Heiligen Schrift. Sein Stil und der Inhalt seiner Briefe lassen jedoch erkennen, daß er sich wahrscheinlich nicht eingehend mit der griechischen Literatur und Philosophie befaßt hatte.
Wenn wir in der Apostelgeschichte lesen (17:28), daß der Apostel zu den Athenern sagte: „Wie auch etliche Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts“, so zitiert er den viel früheren griechischen Naturphilosophen und Dichter Aratos, der vielleicht in Tarsus die Schule besucht hatte, da er aus der benachbarten Stadt Soli stammte.
In dem Brief an Titus zitiert er einen anderen griechischsprachigen Dichter, Epimenides, der von Kreta kam (s. 1:12). Aber die Zahl der Zitate, die Paulus den Werken weltlicher Schreiber entnahm oder die ihm selber zugeschrieben wurde, ist unbedeutend im Vergleich zu seinen wiederholten Zitaten aus dem Alten Testament. Es hat den Anschein, daß der Unterricht über die Klassiker bei ihm nur einen geringen Eindruck hinterlassen hatte.
Ja, die Anfangskapitel des ersten Briefes an die Korinther lassen darauf schließen, daß ihm die komplizierten und pedantischen Lehren der Schulen nicht lagen — Lehren, über die er seine Nachbarn in Tarsus diskutieren hörte. Je mehr er von diesen Lehren hörte, so scheint es, desto weniger mochte er sie, denn er kam, wie er an die Christen in Korinth schrieb (2:4), „nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit“. Die Griechen sind es, sagt er (s. 1:20–22), die nach Weisheit trachten, aber „hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?“