Von Athen aus reiste Paulus in die geschäftige Handelsstadt Korinth, die Hauptstadt der römischen Provinz Achaja, die am schmalen Isthmus lag, der die Halbinsel mit dem griechischen Festland verbindet. Jahrhundertelang war Korinth für seinen Reichtum berühmt gewesen, und obwohl es 146 v. Chr. geplündert und niedergebrannt worden war, wurde es aufgrund einer Verordnung von Julius Caesar aus dem Jahre 44 v. Chr. wieder aufgebaut. Zu Paulus' Zeiten hatte die Stadt ihren früheren Wohlstand nicht nur wieder erreicht, sondern sogar übertroffen. Sie war, wie Athen, für ihre Künste und Architektur bekannt, doch hatte sie auch einen weniger angenehmen Ruf, nämlich den laxer Moral. Trotzdem sollte Paulus in dieser Stadt sehr erfolgreich sein und mindestens eineinhalb Jahre lang dort bleiben (s. Apg. 18:1–18).
In Korinth lernte Paulus einen Juden namens Aquila kennen, der aus Pontus in Kleinasien stammte. Er und seine Frau Priscilla waren wegen ihrer Religion aus Italien vertrieben worden. Sie mögen schon Christen gewesen sein, als Paulus sie traf. Er wohnte bei ihnen, und Paulus und Aquila übten gemeinsam ihren Beruf als Zeltmacher aus. Zweifellos arbeitete Paulus bis tief in die Nacht, wie er dies auch in Thessalonich getan hatte, doch fand er immer noch Zeit, an jedem Sabbat in der Synagoge zu lehren, „und überzeugte Juden und Griechen“.
Zwei seiner Begleiter, Silas und Timotheus, die in Mazedonien geblieben waren, während Paulus sich in Athen aufhielt, schlossen sich ihm in Korinth wieder an. Silas mag eine jener großzügigen Spenden mitgebracht haben, die die Kirche in Philippi gelegentlich an Paulus sandte und die es ihm ermöglichten, dem Predigen mehr Zeit zu widmen. Timotheus kam aus Thessalonich und brachte Neuigkeiten über die Situation der dortigen Kirche mit und wahrscheinlich auch einen Brief. Zu dieser Zeit, etwa im Jahre 50 oder 51 n. Chr., schrieb Paulus den ersten jener Briefe, die seinen Namen unsterblich gemacht haben, den ersten Brief an die Thessalonicher.
Wenn wir die Briefe des Paulus als Abschnitte eines Buches lesen, das in Kapitel und Verse aufgeteilt ist, übersehen wir teilweise ihren lebendigen Ursprung. Es sind Briefe, die von einem eifrigen Missionar geschrieben wurden und an Kirchen und Einzelpersonen gerichtet waren, jedoch immer ein bestimmtes Ziel verfolgten und von einem besonderen historischen Ereignis beeinflußt waren. In diesen Briefen ist enthalten, was man heute als allgemeine Bemerkungen zu verschiedenen Aspekten christlichen Lebens und Lehrens ansehen mag. Wenn wir uns jedoch die Umstände genauer betrachten, unter denen sie geschrieben wurden, und die Bedürfnisse, denen sie abhelfen sollten, die örtlichen falschen Annahmen, die sie berichtigen sollten, stellen wir fest, wie praktisch und zeitgemäß jeder dieser Briefe war. Dies lenkt in keiner Weise von dem Wert ab, den sie heute für uns darstellen, sondern es erhöht ihn. Die ungestüme Energie, die es dem Apostel ermöglichte, die Probleme der Kirchen z. B. in Philippi und Korinth zu erfassen und zu lösen, haftet den Seiten seiner Briefe noch heute an. Das macht sie in jedem Zeitalter und unter allen Umständen relevanter und hilfreicher, als wenn Paulus allgemeine Bemerkungen niedergeschrieben hätte, ohne eine tatsächliche Situation im Auge zu haben.
Der erste der beiden Briefe, die Paulus an die thessalonische Kirche sandte, die früheste seiner Schriften, die wir haben, ist ein typisches Beispiel dafür. Offenbar benötigte die Kirche Ermutigung und Rat. Er schreibt den Brief im eigenen Namen und im Namen seiner beiden Freunde Silas (Silvanus) und Timotheus und beginnt mit Worten des Dankes und Lobes, dann erinnert er sie an die Werke ihres Glaubens, geht auf einige der Anschuldigungen ein, die seine Feinde gegen ihn und seine Lehre erhoben haben, spricht diesen neuen Christen angesichts der Verfolgung Mut zu und wiederholt die dringende Bitte nach brüderlicher Liebe und moralischer Reinheit.
Ein bedeutender Teil des Briefes behandelt die Parusie, die Wiederkunft Christi Jesu. Dieses Ereignis sollte, nicht nur wie die Thessalonicher glaubten, sondern auch wie Paulus erwartete, in der nahen Zukunft eintreten. Er versichert ihnen, daß sie wegen ihrer Christenfreunde, „die da entschlafen sind“, nicht traurig zu sein brauchten; die Verheißung gelte auch für jene. „Die Toten in Christus werden auferstehen zuerst. Danach wir, die wir leben und übrigbleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken“ (4:14, 16, 17). Diese Erwartung habe allerdings auch ihre Gefahren, so warnte der Apostel. Müßiges Warten auf die Erlösung nütze niemandem. Sie sollten wachsam sein und eifrig im Glauben, in der Liebe und im Frieden arbeiten. Mit weiteren praktischen Ratschlägen und dem Wunsch, daß sie sich bis zur Ankunft des Herrn unsträflich bewahren mögen, bat er sie, den Brief allen Jüngern vorzulesen, und schloß mit dem Segen: „Die Gnade unsers Herrn Jesus Christus sei mit euch!“
Dieser Brief wurde von Timotheus nach Thessalonich gebracht, aber die Freude der Kirche über die unmittelbar bevorstehende Wiederkehr Christi hatte ein solches Ausmaß erreicht, daß Paulus offenbar tauben Ohren Geduld und gesunden Menschenverstand predigte. Timotheus beeilte sich, Paulus davon zu berichten, der wahrscheinlich noch im selben Jahr seinen zweiten Brief an die Thessalonicher schrieb.
Dieser zweite Brief befaßte sich hauptsächlich mit der vieldiskutierten Frage der Parusie. Anscheinend war ein Teil der Schwierigkeiten durch eine falsche Auslegung entweder der christlichen Tradition, einer Prophezeiung oder durch einen nicht autorisierten Brief verursacht worden, der unter Paulus' Namen kursierte; so war es nun eines seiner wichtigsten Ziele, dieses Mißverständnis zu klären und zu zeigen, warum seiner Ansicht nach das zweite Kommen doch nicht so unmittelbar bevorstehe. Er erklärte, daß „zuvor der Abfall komme“ (2:3) und eine offene Personifizierung der Gesetzlosigkeit, die schließlich durch die Helligkeit des Kommens des Herrn bloßgestellt und zerstört werde (vgl. Matth., Kap. 24).
Abschließend bestätigte er die Echtheit dieses Briefes, den er wie üblich diktiert hatte, indem er in seiner eigenen kräftigen Handschrift hinzufügte: „Der Gruß mit meiner, des Paulus, Hand. Das ist das Zeichen in allen Briefen. So schreibe ich.“
Wie aus der Apostelgeschichte hervorgeht, war die Arbeit des Apostels in Korinth unterdessen nicht vergeblich gewesen. Viele Korinther wurden bekehrt, unter anderen Krispus, der Vorsteher der Synagoge, mit seinem ganzen Hause, und Justus, der direkt neben der Synagoge wohnte und dessen Haus Paulus als Versammlungsort benutzte. Ermutigt durch eine Vision, predigte er hier weiterhin furchtlos und erregte so sehr die Feindschaft jüdischer Gegner, daß sie ihn bei Gallio, dem neuen römischen Prokonsul oder Landvogt der Provinz Achaja, anklagten. „Dieser Mensch überredet die Leute, Gott zu dienen dem Gesetze zuwider“, sagten sie, doch bevor Paulus etwas zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, beherrschte Gallio die Situation und wies die Klage ab. Es gehörte nicht zu seinem Aufgabenbereich, sich mit den religiösen Bestimmungen der Juden zu befassen. Er wollte nicht Richter in solchen Angelegenheiten sein und ließ die protestierenden Juden aus dem Gerichtssaal werfen.
In dem Durcheinander nahmen die Griechen der Stadt die Gelegenheit wahr, bemächtigten sich des Juden Sosthenes, des „Vorstehers der Synagoge“, und verprügelten ihn vor dem Richterstuhl. Doch der Landvogt wollte nichts damit zu tun haben. Mit den Worten der Apostelgeschichte: „Gallio kümmerte sich nicht darum“, ein Satz, der oft zitiert wurde und den Namen dieses Mannes zum Inbegriff der Gleichgültigkeit gegen religiöse Fragen im allgemeinen und gegen das Christentum im besonderen werden ließ. Sein berühmter Bruder jedoch, der römische Philosoph Seneca, schildert im Vorwort zu einem seiner Bücher Gallio als einen Mann von Integrität, Freundlichkeit und Aufrichtigkeit, er malt ein Bild von einem Mann mit vorbildlichem Charakter, der von Schmeicheleien unberührt bleibt. Tatsächlich hatte Gallio dem Christentum keinen kleinen Dienst erwiesen, denn Paulus konnte, nachdem er freigelassen worden war, noch längere Zeit in Korinth wirken. Vermutlich war es gegen Ende Februar des Jahres 53 n. Chr., als er sich zu einer weiteren Reise aufmachte.