Als sich Paulus, nachdem er die Vision gehabt hatte, erhob, stellte er fest, daß er blind war. Seine Gefährten mußten ihn den restlichen Weg nach Damaskus führen, wo er drei Tage unter Fasten und von Blindheit geschalgen verbrachte. Dort hatte ein Mann namens Ananias — er wird als Jünger bezeichnet, als „ein gottesfürchtiger Mann nach dem Gesetz“, der einen guten Ruf unter den Juden hatte — eine Vision, in der er aufgefordert wurde, Paulus zu Hilfe zu kommen. Dieser Ananias darf nicht mit Ananias, dem Mann der Saphira, verwechselt werden, der einen ganz anderen Charakter hatte (s. Apg. 9:8–10; 22:10–12; vgl. 5:1–10).
Ananias wurde angewiesen, in das Haus eines gewissen Judas zu gehen, in die Gasse, die die „gerade“ heißt (eine Straße, die man heute noch in Damaskus sehen kann), damit er Paulus, der dort übernachtete, die Hände auflege und ihn von seiner Blindheit heile. Ananias dachte natürlich, daß dies ein Versehen sein mußte, denn er hatte Berichte darüber gehört, was Saulus den Christen in Jerusalem angetan hatte und daß die jüdische Obrigkeit ihm die Befugnis erteilt hatte, diese Umtriebe in Damaskus fortzusetzen.
Aber der Einwand des Ananias wurde durch die Unterweisung beiseite geschoben, die, wie der Verfasser der Apostelgeschichte schreibt, „der Herr... Jesus“ ihm mit den Worten erteilte: „Dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug, daß er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel.“ Ananias gehorchte. Er suchte Paulus auf, legte seine Hände auf ihn und erzählte ihm, wie er zu ihm gesandt worden sei, damit er „wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllt werden“ möge. Die Heilung erfolgte augenblicklich, und Paulus wurde sofort getauft. Von dem Tage an tat sich ihm ein neues und ganz anderes Leben auf (s. 9:11–22; 22:13–16).
Die Bekehrung des Paulus, die sich wahrscheinlich zwischen 33 und 35 n. Chr. ereignete, ein paar Monate nach dem Tode des Stephanus, stellt zweifellos den Wendepunkt in seiner außergewöhnlichen Laufbahn dar. Hinter ihm lagen jene Jahre seiner Jugend und als junger Mann, wo es sein höchstes Ideal war, als Pharisäer und als der Sohn eines Pharisäers in den Dienst eines strengen und eifrigen Judaismus zu treten. Nun muß sich ihm, wenn auch erst nur schwach umrissen, der Blick auf seine Tätigkeit in einem viel weiteren und mehr geistigen Feld aufgetan haben, nämlich das Evangelium Christi Jesu zu betätigen und zu predigen und jenen Glauben bis an die Enden der Welt zu verbreiten. Doch wir können es uns nicht vorstellen, daß sein Studium an der Hochschule für Rabbiner umsonst gewesen war, denn die gründliche Kenntnis der hebräischen Schriften, die er sich dort erworben hatte, zeigt sich in seinen Briefen, die ein bleibendes Andenken an ihn sind. Selbst sein brennender Eifer, der einst in der Verfolgung zum Ausdruck gekommen war, sollte nun in edlere Kanäle gelenkt werden, er sollte ihn erfolgreich durch Verhör und Geißelung, Müdigkeit und Gefahr, Schiffbruch und Gefangenschaft hindurchführen (s. 2. Kor. 11:24–27), bis er sein Leben mit dem Siegel des Märtyrertums beschloß.
Er, der als ein Pharisäer geboren und erzogen worden war, wurde nun von oben geboren, oder von neuem geboren, um es mit den Worten des Neuen Testaments auszudrücken. Wir müssen also nun gewissermaßen einen neuen Anfang machen und seine Kindheit als Christ erforschen. Trotz seiner offensichtlich plötzlichen Bekehrung dürfen wir doch jene langsame Entwicklung nicht vergessen, die zu ihr führte.
Allein die Tatsache, daß Paulus sich taufen ließ, reichte nicht aus, seine Treue zu dem neuen Glauben zu beweisen. Zweifellos waren da manche, die zwar, wie der in der Apostelgeschichte 8:9–24 erwähnte Zauberer namens Simon, die Taufe empfingen, aber dann bald zeigten, daß sie keine Vorstellung davon hatten, was das Christentum bedeutete, und sich nicht aufrichtigen Herzens zu ihm bekannten. In Paulus’ Fall jedoch dauerte es nicht lange, bis der Neubekehrte in den Synagogen auftrat, die Aufrichtigkeit seiner Bekehrung bewies, sich mit Bestimmtheit und in der Öffentlichkeit zu seinem Glauben bekannte und predigte, daß Christus „Gottes Sohn sei“ (9:20). Seine Zuhörer waren erstaunt. War dies derselbe Mann, der zu Jerusalem „die vertilgt hat, die diesen Namen anrufen“ (V. 21), und in derselben Absicht nach Damaskus gekommen war? Daß Paulus das Christentum angenommen hatte, sollte ebensoweit bekannt werden wie die Tatsache, daß er ihm früher entgegengearbeitet hatte.
Bald nach seiner Taufe reiste Paulus nach Arabien. In der Apostelgeschichte finden wir keinen Hinweis auf diesen Zeitabschnitt, doch in seinem Brief an die Galater schrieb er (nachdem er kurz auf seine Bekehrung Bezug genommen hatte): „[Ich] besprach ... mich nicht mit Fleisch und Blut, ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog hin nach Arabien“ (1:16, 17).
Die Schwierigkeit, Paulus' eigene Worte hier und den Bericht in der Apostelgeschichte (9:19, 20) miteinander in Einklang zu bringen, läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß die Bücher nicht von demselben Verfasser stammen und zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind: Paulus schrieb um das Jahr 53 n. Chr. an die Galater, und der Verfasser der Apostelgeschichte, der auch der Verfasser des Lukasevangeliums war, schrieb sie erst ein bis drei Jahrzehnte später nieder.
Als Paulus „nach Arabien“ reiste, zog er sich da eine Zeitlang zurück, um in der Stille zu beten, wie Jesus es tat, als er nach seiner Taufe im Jordan 40 Tage in der Wüste verbrachte? Im ersten Jahrhundert war „Arabien“ ein vager Begriff; wir können daher nicht genau sagen, wo Paulus hinging. Arabien war gewiß nicht ein unbewohntes Land, und wie die Wüste Juda war es wohl nicht ausschließlich Wüste. Einige haben vermutet, daß Paulus sich eigentlich zum Berg Sinai begab, von dem er in einer Allegorie sagt, er liege „in Arabien“ (s. Gal. 4:21–26), doch wir haben keinen Beweis dafür.
Die Erklärung des Apostels, daß er sich „nicht mit Fleisch und Blut“ besprach, legt den Gedanken nahe, daß er vielleicht den Wunsch hatte, sich zurückzuziehen und zu meditieren, ehe er die Pflichten seines Apostelamts auf sich nahm. Es ist jedoch möglich, daß er während dieser Zeit in Arabien predigte. Wir wissen, daß er irgendwie die Feindseligkeit des Arabers Aretas auf sich zog, der König der Nabatäer in der Gegend von Petra war.
Es wird allgemein angenommen, daß Apostelgeschichte 9:22 sich auf das Wirken des Paulus bezieht, nachdem er nach Damaskus zurückgekehrt war. Dort wird uns berichtet, daß er „immer mehr an Kraft“ gewann und lehrte, daß der verheißene Messias tatsächlich gekommen war, und dadurch die orthodoxen Anhänger des Judaismus erzürnte. Ein Komplott (in das offenbar Aretas verwickelt war) wurde geschmiedet, diesen Mann zu töten, der vielen als ein Verräter am Glauben seiner Väter und als eine Gefahr für den Frieden von Damaskus erschienen sein mußte. Paulus wurde vor der Gefahr gewarnt, und obgleich die Tore Tag und Nacht bewacht waren, gelang es ihm zu entrinnen, und zwar dadurch, daß er in einem Korb über die Stadtmauer hinabgelassen wurde (s. V. 23–25; 2. Kor. 11:32, 33).
Paulus konnte nicht in der Umgebung von Damaskus bleiben, wo er jeden Augenblick hätte erkannt werden können. So begab er sich nach Jerusalem. Er hatte es nicht besucht, seit er es mit jenem schicksalsschweren Auftrag verlassen hatte, der so unerwartet mit seiner Bekehrung zu dem Glauben, den er auszulöschen suchte, vereitelt worden war.
Der Hauptzweck seines Besuchs war, Petrus „kennenzulernen“ (Gal. 1:18). Das Verb, das hier gebraucht wird, kann sowohl „sich erkundigen" als auch „Bekanntschaft machen durch Besuch“ bedeuten. An einigen Stellen bringt es das zum Ausdruck, was wir Besichtigung nennen.
Drei Jahre zuvor hatte Paulus als ein hoffärtiger Pharisäer Jerusalem verlassen. Nun kam er als Christ zurück. Es verwundert uns nicht, daß er den Wunsch hatte, mit dem Mann zu sprechen, zu dem Jesus gesagt hatte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde" (Matth. 16:18), dem Mann, dessen schlichte Rede am Pfingstfest Tausende bekehrt hatte.