Als Paulus von Damaskus nach Jerusalem zurückkehrte, hatte er natürlich den Wunsch, die Jünger aufzusuchen. Und in der Apostelgeschichte (9:26) wird uns berichtet, daß er versuchte, „sich zu den Jüngern zu halten“, zweifellos in der Erwartung, herzlich empfangen zu werden als einer, der in Damaskus erfolgreich das Evangelium gepredigt hatte. Wenn das der Fall war, mußte er bitter enttäuscht gewesen sein. Nicht, daß sie ihn nicht gekannt hätten, sie erinnerten sich nur zu lebhaft an ihn in seiner früheren Rolle als Verfolger. Die Juden in Damaskus hatten ihm nach dem Leben getrachtet, weil er sich zum Christentum bekannte. Er war ihnen mit knapper Not entkommen und stieß nun unter den Christen in Jerusalem, von denen er natürlich Unterstützung erwartet hätte, auf Mißtrauen und Verdacht. „Sie fürchteten sich alle vor ihm“, lesen wir, „und glaubten nicht, daß er ein Jünger wäre.“ Paulus befand sich dadurch in einer unangenehmen Lage: vorerst wurde er weder von den Juden noch von den Christen in Jerusalem akzeptiert.
Glücklicherweise fand Paulus einen Gönner in einem Jünger namens Joseph, den andere liebevoll Barnabas nannten (buchstäblich „Sohn des Trostes“, der „Ermutigung“ oder des „Zuspruchs“), der nach dem Brauch der christlichen Gemeinde ein Grundstück verkauft und den Erlös den Aposteln gebracht hatte (s. 4:32—37). Er war ein Levit aus dem nicht weit von Cilicien, der Heimat des Paulus, entfernten Zypern. Barnabas rettete Paulus aus seiner Verlegenheit und führte ihn bei den anderen Jüngern ein (s. 9:27).
In seiner „Galater-Autobiographie“ (s. 1:18, 19) erzählt Paulus selbst über seinen ersten Besuch in Jerusalem. Hier geht es dem Apostel darum, seinen Lesern nicht allgemein über seinen Besuch zu berichten, sondern darüber, wie er von Simon Petrus empfangen wurde. Die Gelehrten sind sich darüber nicht einig, ob der Bericht im Galaterbrief sich auf einen privaten Aufenthalt in Jerusalem bezieht, bei dem Paulus nicht predigte, sondern allein Petrus und Jakobus besuchte. Wenn wir aber recht haben und diese beiden Berichte miteinander verbinden, sehen wir vielleicht, wie der liebenswürdige und impulsive Simon Petrus, ein Führer der Kirche, als einer der ersten Paulus dafür entschädigt, daß die Mitglieder ihn ursprünglich verdächtigt hatten. Petrus nahm Paulus für fünfzehn Tage in sein Haus auf, wie Paulus selbst erzählt, und so erfüllte sich Paulus' Wunsch, Petrus zu sehen, und zweifellos überstieg dieser Besuch seine Erwartungen. Wir würden viel dafür geben, zu erfahren, was sich bei jenem bedeutsamen ersten Zusammentreffen abspielte — zwischen jemandem, der dem Meister während seines ganzen Wirkens so nahe war, und demjenigen, der dazu bestimmt war, sein neuer Deuter für die Welt, die im Westen lag, zu werden.
Der einzige andere Apostel, den Paulus bei dieser Gelegenheit traf, war „Jakobus, des Herrn Bruder“ (V. 19). Obgleich dieser Jakobus nicht zu den ursprünglichen Zwölf zählte, wurde er doch als Apostel bezeichnet, teils aufgrund seiner Verwandtschaft mit Jesus und teils aufgrund seines Ansehens, denn er wurde bald das Oberhaupt der Kirche in Jerusalem.
Nachdem nun Paulus von Petrus und Jakobus liebevoll aufgenommen worden war, wurde er offenbar auch von anderen Jüngern akzeptiert, und er bewegte sich frei unter ihnen und „ging ein und aus zu Jerusalem“ (Apg. 9:28).
Auch verschwieg er nicht seine Überzeugung, wie die Apostelgeschichte uns berichtet, sondern lehrte im Namen Jesu, wie er es in Damaskus getan hatte, und „stritt mit den griechischen Juden“, den Hellenisten oder griechischsprachigen Juden. Etwa drei Jahre zuvor hatte er auf ihrer Seite an ihren Streitgesprächen mit Stephanus teilgenommen; und genauso wie jene griechischen Juden den Tod des Stephanus auf dem Gewissen hatten, so trachteten sie nun Paulus nach dem Leben. Die Folge davon war, daß er in aller Eile von Jerusalem fliehen mußte, wie er es zuvor in Damaskus getan hatte. Es gelang den Jüngern, ihn aus der Stadt und hinunter nach Cäsarea zu bringen, einer Küstenstadt, die etwa 60 Kilometer nordwestlich von Jerusalem liegt, und von dort nahm er ein Schiff nach Tarsus (s. Apg. 9:29, 30; 22:17–21).
Es ist von Bedeutung, daß Paulus auf seinen ruhelosen Reisen als nächstes nach Tarsus kommen sollte. Er hatte in Damaskus gepredigt, dem Ort seiner Bekehrung, und war kaum mit dem Leben davongekommen. In Jerusalem, dem Schauplatz seines Wirkens als Verfolger, hatte er sich zu Christus Jesus bekannt und war wieder Gefahr gelaufen, ermordet zu werden. Nun näherte er sich der Stadt seiner Kindheit, der Heimat seines Vaters, des Pharisäers, der ihn zu einem eifrigen Anhänger des Judaismus erzogen hatte.
Wie seine Angehörigen und ehemaligen Freunde ihn aufnahmen, ob verständnisvoll und versöhnlich oder voll bitteren Grolls und vorwurfsvoll, darüber berichtet Paulus uns nichts. Einige haben vermutet, daß seine eigene Erfahrung aus den Worten an die Kolosser sprechen mag (3:21): „Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden.“ Es bestehen keine Aufzeichnungen über sein Wirken zu jener Zeit, obgleich einige Gelehrte manche seiner vielen harten Erfahrungen, über die er im zweiten Brief an die Korinther berichtet (11:23–27), diesem Zeitabschnitt zuschreiben.
Wie dem auch sei, wir wissen, daß er dann, dem Galaterbrief 1:21 zufolge, in den Provinzen Cilicien und Syrien predigte, wo er ungefähr zehn Jahre lang wirkte. Etwa drei Jahre nach seiner Bekehrung hatte er Jerusalem verlassen, und offenbar sollte er erst vierzehn Jahre später wieder dorthin zurückkehren (s. 2:1). In dieser Zeit verbreitete sich sein Ruhm, denn selbst die Gemeinden in Judäa, die ihn nicht persönlich kannten, hörten von seinem Wirken in Cilicien — als Prediger des Glaubens, den er früher mit allen Mitteln zu vernichten gesucht hatte (s. 1:22, 23).
Gegen Ende dieses Zeitabschnitts ereignete sich etwas, was den Beginn einer weiteren wichtigen Epoche in Paulus’ Leben darstellt.
Die Verfolgung in Jerusalem, die mit der Steinigung des Stephanus begonnen hatte, hatte die Jünger verstreut, und wo sie auch hingingen, verbreiteten sie die Botschaft des Christentums. Einige waren über das Meer nach Zypern gegangen, andere nach Phönizien und wieder andere noch weiter nördlich nach Antiochien in Syrien. Zuerst beschränkten sie sich darauf, die Juden zu unterweisen, aber nach einiger Zeit beschlossen die Christen in Antiochien, den Griechen, der nichtjüdischen Bevölkerung, zu predigen. Das Ergebnis war ermutigend. „Eine große Zahl ward gläubig und bekehrte sich zu dem Herrn“ (s. Apg. 11:19—21). Als die Kunde von dieser neuen Entwicklung Jerusalem erreichte, beschlossen die christlichen Führer, einen von ihnen zu erwählen, der offensichtlich für diese neue Mission verantwortlich sein sollte; und der Mann, den sie wählten, war Barnabas. Als Barnabas nach Antiochien kam, stellte er fest, daß das Werk unter den Heiden tatsächlich schnell voranging und daß „ein großes Volk dem Herrn zugetan“ wurde (V. 22—24).
Es war klar, daß Barnabas ohne Hilfe all die Arbeit nicht gut bewältigen konnte, und als er darüber nachdachte, wer ihm helfen könnte, kam ihm ganz natürlich sein guter Freund Paulus in den Sinn; und das um so mehr, als er ihn zweifellos gehört hatte, wie er in Jerusalem jene eindringlichen Reden hielt, die die orthodoxen Juden so sehr erzürnten, daß sie ihm nach dem Leben trachteten.
Ferner mußte Barnabas die Nachricht gehört haben, die Jerusalem erreicht hatte, daß nämlich Paulus mit seinen Predigten in Cilicien solch großen Erfolg hatte. Und wie Barnabas zehn Jahre vorher sich darum bemüht hatte, daß Paulus von der Kirche in Jerusalem anerkannt wurde, so rettete er ihn nun davor, über seiner Arbeit in Tarsus gewissermaßen in Vergessenheit zu geraten, indem er ihm eine der wichtigsten Positionen in der Missionstätigkeit des frühen Christentums einräumte (s. 11:25, 26). Die Geschichte hat bewiesen, daß seine Wahl absolut gerechtfertigt war. Antiochien hatte den ersten bedeutenden Zustrom griechischer Bekehrter erlebt; und einer sicheren Eingebung folgend, übertrug Barnabas die Fortsetzung dieser Arbeit dem einen Menschen, der sich für die Aufgabe am besten eignete — Paulus, dem Apostel der Heiden.