Es war ein Ereignis von mehr als gewöhnlicher Bedeutung, als Barnabas sich nach Tarsus aufmachte, um Paulus zu suchen. „Und da er ihn fand, führte er ihn nach Antiochien“ (Apg. 11:26), wahrscheinlich um das Jahr 45 oder vielleicht 46 n. Chr.
Dieses Antiochien in Syrien darf nicht mit den vielen anderen gleichnamigen Städten (vor allem dem Antiochien in Pisidien, das in der Apostelgeschichte 13:14 erwähnt wird und ungefähr 480 Kilometer westlich in Kleinasien lag) verwechselt werden. Als Hauptstadt der römischen Provinz Syrien war Antiochien die drittwichtigste Stadt des gesamten Römischen Reiches und stand an Bedeutung gleich hinter Alexandrien und Rom. Die Stadt lag etwa 480 Kilometer nördlich von Jerusalem an dem schiffbaren Orontes. Und sie war, ebenso wie Tarsus, einige Kilometer landeinwärts erbaut worden. Die von mächtigen Mauern umgebene Stadt erhob sich in einer fruchtbaren, von Bergen überschatteten Ebene; sie hatte vielleicht eine halbe Million Einwohner und war für ihre prunkvollen Gebäude bekannt. Die Theater und ein Sportstadion, prachtvolle Tempel, Statuen und Säulengänge, zusammen mit den luxuriösen Villen der Reichen, verliehen der Stadt den Anschein außergewöhnlichen Wohlstands. Arkaden, die sich sechs bis acht Kilometer hinzogen, säumten die mit Marmor gepflasterte Hauptstraße. Der fruchtbare Boden und die ausreichende Wasserversorgung garantierten den Bewohnern eine Fülle von Bäumen und Blumen. Alles in allem ist es nicht überraschend, daß sie sich den Namen „Königin des Ostens“ erwarb.
All der Ruhm und die äußere Schönheit Antiochiens konnten jedoch nicht die Tatsache aufwiegen, daß die Stadt wegen der sittlichen Laxheit und Lasterhaftigkeit ihrer gemischten und intellektuellen Bevölkerung verrufen war. Aber diese kosmopolitische Handelsstadt war auch ein kulturelles Zentrum, das bis zu einem gewissen Grade ein echtes Interesse für intellektuelle und religiöse Fragen zeigte. Ferner war Antiochien eine Freie Stadt mit einem großen jüdischen Bevölkerungsteil. Eine solche Stadt bot ein weites Betätigungsfeld für die missionarische Begeisterung eines Barnabas und die feurigen Predigten eines Paulus.
Zu den gut bekannten Eigenschaften der Antiochener gehörte eine gewisse Fertigkeit, Spitznamen zu prägen. Ob nun die Bezeichnung „Christen“, die den Nachfolgern Christi Jesu gegeben worden war, ein abfälliger Spitzname war oder die Christen selbst sich so nannten oder vielleicht die Obrigkeit sie als solche bezeichnete, um sie von den Anhängern des Judaismus zu unterscheiden: es steht fest, daß „die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt“ wurden (Apg. 11:26). Diejenigen, die die Bezeichnung „Christen“ zum erstenmal gebrauchten, haben wohl kaum im Traum daran gedacht, daß man sich Antiochiens, weil es jenen schlichten Namen geprägt hat, erinnern würde, und zwar lange nachdem die Macht und der Wohlstand der Stadt der Geschichte des Altertums angehörten.
Obwohl ihr Ursprung unbekannt ist, hat sich die Bezeichnung „Christen“ als sehr passend erwiesen. Wenn sie auch nur dreimal im Neuen Testament vorkommt, so wurde sie doch nach und nach ganz allgemein für diejenigen gebraucht, die von den Juden Nazarener oder Galiläer genannt worden waren — die sich selbst gewöhnlich als „die da glaubten“, „die Gläubigen“, „die Heiligen“, „die Jünger“ oder „Nachfolger, des Wegs‘ “ bezeichneten.
Paulus kam also nach Antiochien, der Geburtsstätte der Bezeichnung „Christen“, um Barnabas in dessen Tätigkeit zu unterstützen. Paulus war damals wahrscheinlich etwa 45 Jahre; und trotz seiner großen Begabung als Apostel malt die Überlieferung kein allzu schmeichelhaftes Bild von seiner körperlichen Erscheinung. In einem Brief an die Korinther erwähnt er selbst, daß die Menschen von ihm sagten: „Wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede ohne Gewicht“ (2. Kor. 10:10). In einem apokryphischen Buch, als „die Akten des Paulus und der Thekla“ bekannt, das in die Sammlung The Ante-Nicene Fathers aufgenommen wurde, wird er folgendermaßen beschrieben: „Klein an Wuchs, mit kahlem Kopf, krummen Beinen, kräftig gebaut, mit zusammengewachsenen Augenbrauen, etwas vorspringender Nase, voll angenehmen Wesens; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald wieder hatte er eines Engels Angesicht.“ Anderswo wird berichtet, daß er blaue Augen hatte und daß das wenige Haar, das er hatte, lockig war. Wie dem auch sei, es besteht kein Zweifel, daß er mit seiner Botschaft überaus erfolgreich war. Selbst seine Kritiker gaben zu, daß seine Briefe, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, stark und schwerwiegend waren (s. 2. Kor. 10:10).
Ein ganzes Jahr lang arbeiteten Barnabas und Paulus zusammen in Antiochien und bekehrten viele. Ungefähr zu der Zeit traf eine Gruppe von „Propheten“ aus Jerusalem ein, von denen einer namens Agabus verkündete, daß eine große Hungersnot drohe. Da die Gegend um Antiochien so fruchtbar war, bestand für die Jünger dort kaum die Gefahr einer strengen Teuerung, aber die Christen in Jerusalem befanden sich nicht in solch einer glücklichen Lage. Es wurde daher ein Hilfsfonds gegründet; und offensichtlich unternahm Paulus zusammen mit Barnabas seine nächste Reise nach Jerusalem — wie in der Apostelgeschichte (11:27–30; 12:25) berichtet —, um die zu diesem Zweck gesammelten Spenden zu verteilen. In diesem Bericht heißt es einfach, daß die beiden Männer die Gabe überbracht hatten.
Es ist jedoch möglich, daß Paulus dieses Mal etwas anderes in Jerusalem zu erledigen hatte — wenn sich, wie einige Gelehrte behaupten, seine Worte im Brief an die Galater 2:1–10 bezüglich einer zweiten Reise tatsächlich auf diesen Besuch beziehen, und nicht auf das spätere Kirchenkonzil in der Apostelgeschichte 15. Wie aus dem zweiten Kapitel des Galaterbriefs hervorgeht, unterhielt er sich privat mit den Führern der Kirche in Jerusalem und erklärte ihnen in großen Zügen, was er den Heiden predigte. Gewisse „falsche Brüder“, so berichtete er, hatten behauptet, daß sich die Heiden der jüdischen Sitte der Beschneidung unterziehen müßten, ehe sie als wahre Christen gelten konnten. Das hätte bedeutet, daß die Bekehrten zuerst Juden werden müßten, ehe sie Christen werden konnten.
Paulus hatte einen dieser Heiden mitgebracht, einen jungen Konvertit namens Titus. Als die Apostel erklärten, daß Titus sich nicht beschneiden zu lassen brauchte, hatte Paulus einen Präzedenzfall für die Heiden geschaffen. „Sie sahen“, schrieb Paulus, „daß mir anvertraut war das Evangelium an die Heiden.“ Das Christentum sollte nicht mehr an eine der strengsten Regeln des Judaismus gebunden sein; eines der größten Hindernisse für die allgemeine Aufnahme des neuen Glaubens war aus dem Wege geräumt.
Es ist beachtenswert, wie sorgfältig Paulus darauf hinweist, daß es nicht seine Absicht war, bei der Unterredung mit den anderen Aposteln Instruktionen von ihnen zu erhalten. Er sagt (V. 6): „Mir haben die, welche das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt.“ (In der Übersetzung des Neuen Testaments, Die Gute Nachricht, heißt es: „Die Männer, die als maßgebend gelten, machten mir keinerlei Vorschriften.“) Paulus behauptete immer wieder, seinen Auftrag direkt vom Meister selbst empfangen zu haben; doch gelegentlich empfand er es als weise, sich mit den anderen Aposteln zu beraten.
Die Ergebnisse dieser privaten Zusammenkunft in Jerusalem mit Jakobus, Petrus und Johannes, die Paulus als die „Säulen“ der Kirche beschrieb, waren sehr zufriedenstellend. Diese Männer erkannten nicht nur an, daß das Evangelium, das Paulus predigte, wirksam war, sondern sie gaben auch Paulus und Barnabas die rechte Hand und wurden mit ihnen eins, da ihnen klargeworden war, daß diese vornehmlich unter den Heiden wirken sollten, während Petrus und einige andere besonders dafür geeignet waren, sich mit den Juden auseinanderzusetzen. Zum Schluß der Unterredung wurden Paulus und Barnabas von den Aposteln in Jerusalem aufgefordert, bei ihrem ausgedehnten Wirken unter den Heiden das Werk, das sie so gut begonnen hatten, fortzusetzen, nämlich weiterhin Spenden zur Unterstützung der Armen zu sammeln.