Wahrscheinlich im Jahre 57 n. Chr. schickte Paulus von Korinth aus seinen Brief an die Römer. Danach bereitete er sich auf seine letzte Reise nach Jerusalem vor. Der Stil, in dem Apg. 20 geschrieben ist, läßt vermuten, daß Paulus von Lukas und einigen anderen Jüngern begleitet wurde.
Da Paulus von einer jüdischen Verschwörung gegen ihn hörte, änderte er seinen Plan; anstatt von Korinth aus mit dem Schiff zu fahren, machte er einen großen Umweg und reiste durch Mazedonien. Als Paulus während seines wohlbekannten Aufenthalts in Troas predigte, fiel Eutychus aus einem Fenster im dritten Stockwerk, aber er wurde von dem Apostel wieder zum Leben erweckt. Paulus blieb auch einige Zeit in Milet, wo er die Ältesten der Kirche zu Ephesus traf. Er empfahl ihnen sein eigenes Beispiel und ermutigte sie, wachsam zu sein und den Schwachen beizustehen — zu denken an „das Wort des Herrn Jesus, da er gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen“ (V. 35). Die Ältesten weinten und umarmten den Apostel in dem Bewußtsein, daß sie ihn vielleicht nie mehr wiedersehen würden.
Paulus reiste weiter nach Jerusalem, trotz der Warnungen, daß die Juden dieser Stadt ihm feindlich gesinnt seien. Offensichtlich hatte es Gerüchte gegeben, er habe Juden überredet, das hebräische Gesetz zu mißachten; er hatte jedoch nichts dergleichen getan, sondern betonte, daß das Licht des Christentums dem Gesetz eine neue Dimension hinzufügte. Angesichts dieser düsteren Erwartungen hatte er den Ältesten von Ephesus gesagt: „Ich achte für mich selbst mein Leben keiner Rede wert“ (V. 24).
Bei seiner Ankunft in Jerusalem wurde Paulus ein herzlicher Empfang durch die Jünger zuteil, und er traf sich mit Jakobus, dem Bruder des Meisters, und verschiedenen Ältesten der Kirche. Auch sie wiesen ihn darauf hin, daß es gefährlich sei, in Jerusalem zu bleiben. Die Ältesten machten einen Plan, wie Paulus seinen guten Willen gegenüber dem Judentum zeigen konnte, indem er sich einer rituellen Reinigung im Tempel unterzog; diese Handlung war jedoch nutzlos. Seine Ankläger sagten, er habe wider das Gesetz und sein eigenes Volk gesprochen und den Tempel entheiligt, da er Griechen mit hineingenommen habe. Wenn auch diese Anschuldigungen haltlos waren, so schürten sie doch das Feuer offener Feindseligkeit beim Volk, das den Apostel ergriff. Glücklicherweise wurde Paulus von dem Oberhauptmann der römischen Streitkräfte in Jerusalem (in 23:26 als Klaudius Lysias bezeichnet) und seinen Soldaten gerettet, bevor er getötet werden konnte (s. 21:17–32).
Lysias gewährte Paulus die Bitte, zum Volk zu sprechen. „Auf hebräisch“ (d. h. wahrscheinlich in aramäisch) sprach Paulus über sein jüdisches Erbe und den göttlichen Auftrag, ein Apostel für die Heiden zu sein. Die Menge nahm jedoch eine so drohende Haltung ein, daß Lysias Paulus schnell in die römische Garnison zog. Die Römer hätten den Apostel ausgepeitscht, um herauszufinden, was der Grund für diese Unruhen war, hätte er sich nicht auf seine römische Staatsbürgerschaft berufen — eine Tatsache, die einen vor solcher Behandlung bewahrte (s. 21:37–22:29).
Am nächsten Morgen hatte Paulus ein ziemlich barsches Verhör vor dem jüdischen Hohen Rat, dem Sanhedrin. Kurz darauf jedoch, als er sich noch in militärischem Gewahrsam befand, kam ihm eine tröstende Vision. Wie er seinen Glauben in Jerusalem bezeugt hatte, so würde es ihm auch möglich sein, das Evangelium in Rom zu predigen (s. 23:11). Diese Ermutigung erfolgte zur rechten Zeit, denn am nächsten Tag schworen über vierzig seiner Feinde einen Eid, den Apostel zu töten. Sein Neffe erfuhr davon und machte Lysias darauf aufmerksam, der es sich kaum leisten konnte, daß ein sich in seiner Obhut befindlicher römischer Bürger ermordet würde. Er ließ des Nachts Paulus von einem bewaffneten Trupp nach Cäsarea bringen, damit er dort das Urteil von Felix, dem Landpfleger, erwarte (s. V. 12–24).
So begann eine ganze Kette von Ereignissen, die den Apostel vor verschiedene hohe römische Stellen brachten. Als erstes wurde er vor dem Landpfleger von dem Hohenpriester Ananias und einem Anwalt namens Tertullus angeklagt, er habe in vielen verschiedenen Ländern Aufruhr unter den Juden verursacht, habe als Anführer der Sekte der Nazarener gehandelt und den Tempel zu entweihen versucht. Felix war von der Verteidigungsrede des Paulus beeindruckt, obwohl der Apostel zugab, angebetet zu haben „nach der Lehre, die sie [die Juden] eine Sekte heißen“. Zusammen mit seiner jüdischen Frau Drusilla befragte Felix später Paulus über den christlichen Glauben. Als der Apostel jedoch freimütig über Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung und Gericht sprach, erschrak Felix, und wieder wurde Paulus ins Gefängnis geworfen (s. Kap. 24).
Später wurde Paulus vor den neuen Landpfleger Porcius Festus geführt, und wieder wurden „viele und schwere Klagen“ gegen ihn vorgebracht (s. 25:7). Um aber die Möglichkeit eines Verhörs vor dem Sanhedrin zu vermeiden, machte Paulus von seinem Recht als römischer Bürger Gebrauch und berief sich direkt auf den Kaiser in Rom — in der Hoffnung, zumindest ein gerechtes Verhör zu erlangen. Schließlich wurde Paulus, bevor er nach Rom geschickt wurde, keinen Geringeren vorgeführt als König Agrippa (selbst ein Jude) und Königin Bernice, die Festus gerade einen Besuch abstatteten. Als Festus die Verteidigung des Paulus hörte, dachte er, dieser sei verrückt. Der König jedoch war so tief beeindruckt, daß er sagte: „Es fehlt nicht viel, du wirst mich noch bereden und mich zum Christen machen“ (26:28).
Etwa um 60 n. Chr. machte sich Paulus unter der Aufsicht des Hauptmanns Julius endlich auf den Weg nach Rom. Er wurde von Aristarchus, einem Mazedonier, und möglicherweise von Lukas selbst begleitet, denn Lukas schreibt Apg. 27, als ob er an den Ereignissen teilgenommen hätte. Die Schiffsreise wurde vor der Südküste Kretas gefährlich, „darum daß auch die Fastenzeit schon vorüber war“ (V. 9) — womit die Herbst-Tagundnachtgleiche gemeint war, auf die gewöhnlich schwere Stürme folgten. Als der Sturm andauerte, ermutigte Paulus die verzweifelte Mannschaft, indem er ihr seine Offenbarung mitteilte, daß sie mit dem Leben davonkommen würde. Dies bewahrheitete sich in dem berühmten Schiffbruch vor der Küste von Malta. Malteser nahmen die Schiffbrüchigen auf, insgesamt 276, die die Küste sicher erreicht hatten. (Daß die Inselbewohner in der Zürcher Bibel als Barbaren bezeichnet werden, mag lediglich ein Hinweis darauf sein, daß sie Nichtgriechen waren.) In Malta schüttelte Paulus, zur Verwunderung der Anwesenden, die Otter von der Hand ins Feuer und blieb unverletzt. Er wurde auch vom führenden Bürger der Insel, Publius, empfangen, dessen Vater, zusammen mit vielen anderen, von Paulus geheilt wurde (s. 28:1–9).
Nach drei Monaten bestiegen Julius’ Männer und seine Gefangenen ein alexandrinisches Schiff, das nach Italien segelte und schließlich Puteoli anlief, wo der Apostel von den Christen herzlich empfangen wurde. Eine Anzahl Christen kamen ihm auch von Rom entgegen, um ihn schon bei seiner Anreise zu treffen. So ging Paulus’ langersehnter Wunsch, die römischen Christen zu besuchen (s. Röm. 1:13 und Apg. 19:21), in Erfüllung.
Des Apostels Berufung auf den Kaiser (d. h. den regierenden Kaiser) wäre bei Nero eingelegt worden. Die Regierung Nero war zu Beginn ziemlich geachtet, doch als Paulus ankam, hatte der Kaiser seine Schreckensherrschaft begonnen, und daher mag wenig Hoffnung bestanden haben, daß Paulus Gnade widerführe.
Die jüdischen Ankläger des Paulus waren offensichtlich nicht in Eile. Es dauerte zwei Jahre, bevor in seiner Berufungssache etwas unternommen wurde. Seine Gefangenschaft brachte jedoch auch Gutes mit sich, denn er durfte im eigenen gemieteten Haus leben und alle empfangen, die zu ihm kamen. So war es dem Apostel Paulus möglich, seine Mission fortzusetzen. Er „predigte das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesus Christus mit allem Freimut ungehindert“ (28:31), wie es in der Apostelgeschichte heißt.
