Der geistige Mensch tritt niemals in den Ruhestand. Er wird weder müde, noch zieht er sich jemals von seiner wirklichen Aufgabe zurück — nämlich Gott und Gottes Reichtum zum Ausdruck zu bringen, Seine Widerspiegelung, Sein Ebenbild zu sein. Wenn wir uns von einer menschlichen Beschäftigung zurückziehen, werden diese Tatsachen keineswegs widerlegt. Vielmehr kann uns ein solcher Ruhestand helfen, unsere eigentliche Arbeit besser zu erkennen und in dem, „das meines Vaters ist“ bewußter aktiv zu sein.
Wenn der Eintritt in den Ruhestand von Gebet begleitet ist, wird das sowohl den Arbeitnehmer wie den Arbeitgeber segnen. Dies mag sich z. B. in einer allmählichen Verminderung der Arbeitsstunden zeigen, wodurch der Angestellte nicht nur seine Dienste und Erfahrung weiterhin zur Verfügung stellt, sondern mit anderen die geistige Einsicht teilt, die er in seinen freien Stunden durch das Studium und Gebet gewonnen hat, die zu innerer Erneuerung führen. Ob jemand nun allmählich oder an einem bestimmten Tag in den Ruhestand tritt, es braucht nicht zu bedeuten, daß eine ältere Arbeitskraft aus der Arbeitnehmerschaft ausscheidet. Es kann durchaus sein, daß alle etwas von dem Menschen erschauen, „der da erneuert wird“.
Die Jahre des Ruhestandes bieten die Gelegenheit, geistige Entdeckungen zu machen. Vielleicht finden wir nicht nur wunderbare Eigenschaften in uns, die wir uns niemals zugetraut hätten, sondern wir mögen erkennen, daß einige unliebsame Charakterzüge, die wir im Lauf der Jahre als unsere eigenen akzeptierten, in Wirklichkeit überhaupt nicht zu uns gehören. Am wichtigsten aber ist, daß ein umfassenderes und tieferes Verständnis vom Geist uns befähigen wird, uns selbst und andere von der Vorstellung der Sterblichkeit und einer sterblichen Persönlichkeit zu befreien und die geistige Wirklichkeit und Christlichkeit unseres wahren Selbst zu finden.
Körperliche und geistige Reife entwickeln sich nicht unbedingt gleichzeitig. Manch einer mußte vielleicht schwere Verantwortung tragen, obwohl seine geistige Reife noch nicht sehr groß war. Wie festgestellt wurde, stammen einige der unschönen Eigenschaften und Charakterzüge, die den Menschen im Ruhestand zu schaffen machen, noch aus der Kinderzeit. In den dazwischenliegenden Jahren war man zu beschäftigt gewesen, um diese Eigenschaften viel zu beachten oder auszumerzen. Aber der Ruhestand ist eine Zeit, in der man neu geboren werden kann.
Eine solche Wiedergeburt kann jemand, der materiell gesinnt ist, niemals verstehen. Als Christus Jesus von der Möglichkeit sprach, neu geboren zu werden, fragte ihn Nikodemus: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Joh. 3:4. Und der Dramatiker Christopher Fry legte einem Sohn und seiner Mutter folgende Worte in den Mund:
Nicholas: Ich muß dir sagen, daß ich
soeben neu geboren wurde.
Margaret: Nicholas, du glaubst immer, daß du
alles besser kannst als deine Mutter.
Ich kann dir versichern, daß du beim
erstenmal recht angemessen geboren wurdest. The Lady's not for Burning (Die Dame ist nicht fürs Feuer), 2. rev. Aufl. (New York: Oxford University Press, 1950), S. 11.
Eine geistige Wiedergeburt bringt mehr ans Licht als einen besseren Sterblichen. Warum sollte man eine materielle Persönlichkeit gegen eine andere — selbst eine bessere — austauschen? Es ist nicht erstaunlich, daß ein solcher Vorschlag bei niemandem großen Anklang findet, besonders nicht bei jemandem, der viele Jahre seines Lebens damit verbracht hat, den Ansprüchen des sterblichen Selbst gerecht zu werden, und schon oft mit sich selbst kämpfte und sich abmühte, die Persönlichkeit, die er zu haben schien, zu verbessern. Vielleicht sahen sich sogar viele geistig gesinnte Menschen gezwungen, einen großen Teil ihres Lebens den materiellen Belangen zu widmen. Im allgemeinen wird der Tod als das Portal betrachtet, durch das man diesen Besorgnissen entrinnt.
Die Christliche Wissenschaft sagt, daß nicht der Tod, sondern die Geburt — die Wiedergeburt — zur Erlösung führt. Diese Wissenschaft verlangt von ihren Anhängern in gewissem Sinne die Bereitschaft, ewig zu leben und sich durch viele „Wiedergeburts-Erfahrungen“ von liebgewonnenen menschlichen Meinungen und Verhaltensweisen zu trennen. Von neuem geboren zu werden ist keineswegs auf die Pensionsjahre beschränkt. Doch diese Zeit bietet uns oft goldene Gelegenheiten dafür, weil Beruf und Familie uns dann nicht mehr so sehr in Anspruch nehmen.
Wenn man viele Stunden in bewußter Gemeinschaft mit Gott verbringt, erfährt manchmal der Stolz auf vollbrachte Leistungen einen harten Schlag, denn man stellt fest, daß ein materielles Herrschaftsgebiet, ob groß oder klein, wenig Bedeutung hat, selbst wenn man es sich mühsam erkämpfte. Der eine oder andere mag vielleicht mit Schmerzen auf zerbrochene oder unerfüllte Beziehungen zu anderen Menschen zurückblicken und klagen: „Das hätte nicht zu geschehen brauchen. Es wäre auch nicht passiert, wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß.“ Solche Tränen fördern die Wiedergeburt; sie müssen vergossen werden. Zu jedem Menschenleben, auch wenn es die größte Läuterung erfahren hat, gehört vieles, was bereut werden muß. Aber gibt es einen schöneren, mitleidsvolleren, inspirieren-deren Menschen als den, dessen bloße Gegenwart verspricht, daß auch wir von neuem geboren werden können?
Im ersten Kapitel der Vermischten Schriften ruft Mary Baker Eddy in einem Artikel mit dem Titel „Die Wiedergeburt“ aus: „Welch ein glaubenerleuchteter Gedanke, daß die Sterblichen den, alten Menschen‘ ablegen können, bis der Mensch als das Bild des unendlichen Guten, das wir Gott nennen, erfunden wird und die volle Größe des Menschentums in Christus erscheint.“ Verm., S. 15.
Pflegen wir zärtlich in uns selbst oder in anderen eine neu erwachende Demut, überwinden wir nicht nur die hinderliche Selbstgefälligkeit, die auf eine bedeutsame Vergangenheit zurückzuführen ist, sondern stillen auch die Tränen derer, die meinen, ihr Leben sei nutzlos gewesen. Solch eine Demut ist nötig — wir müssen wie die kleinen Kinder werden —, wenn wir den neuen Menschen anziehen wollen.
Das trägt sofort Früchte und segnet uns, indem es uns hilft, den Verlust von Arbeitskollegen und Altersgenossen zu überwinden — ein Problem, das uns in unseren Ruhestandsjahren vielleicht den größten Kummer bereitet. Wer neu geboren wurde, braucht nicht alleinzustehen. Er gehört zu einer Gemeinschaft, die über alle Schranken von Zeit, Raum, Rasse, Kultur, Geschlecht hinweg besteht. Zur Generation der „Wiedergeborenen“ zu gehören kann uns eine Innigkeit geben, die viel zufriedenstellender ist als jede Vertrautheit, die gleichgestellte Menschen jemals miteinander teilen.
Außerdem können wir auch freiwillig arbeiten, vor allem freiwillig beten. Wenn der Pensionär freiwillig betet, um das zu segnen, was vielleicht nicht einmal mehr von direktem Interesse für ihn selbst ist, hilft er der menschlichen Gesellschaft auf ganz besondere Weise. Es ist wohl kaum zu ermessen, wie sehr unser eigenes Leben von einer solchen selbstlosen Liebe bereichert wird, die im Gebet und durch Handlungen zum Ausdruck kommt, zu denen das Gebet führt; aber diese Liebe ist spürbar.
Es mag nicht leicht sein, im Ruhestand zu leben. Wenn wir ihn aber als eine Zeitspanne betrachten, in der sich die geistige Wiedergeburt vollzieht, können wir in ihm den Gegensatz zu einer körperlichen Geburt sehen, die das Menschenkind in eine Welt materieller Belange zu stürzen scheint. Eine geistige Wiedergeburt hilft uns, in die Welt des Geistes vorzudringen. Nutzen wir die Pensionsjahre, um die geistige Wiedergeburt zu fördern, könnten wir sogar, wie Fry in dem zitierten Dialog andeutete, übertreffen, was unsere Mütter mit der ersten Geburt vollbrachten.