Ist Ihnen je in den Sinn gekommen — so wie mir plötzlich eines Tages —, daß Jesus seine Nachfolger nur ein Gebet gelehrt hat, nämlich das Gebet des Herrn?
An jenem Tag war ich tief im Wald und lichtete gerade das Unterholz. Es war ruhig, wunderschön und friedlich — eine Atmosphäre, die zum Beten einlud.
Ich dachte daran, wie Christus Jesus seine Jünger über die Umgebung belehrte, in der man wirkungsvoll beten kann. Er sagte: „Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“ Matth. 6:6. Dann erklärte er ihnen, wie sie beten mußten, und diese Anleitung gilt zweifellos für alle seine Nachfolger zu allen Zeiten.
Um dieses Kämmerlein zum Beten zu finden, müssen wir aber weder in den Wald noch irgendwo anders hingehen. Wir alle haben es bei uns, und zwar immer. Wenn auch unser Kämmerlein der Platz unter dem Griff zu sein scheint, an dem wir uns festhalten, wenn wir im Bus, in der Straßenbahn oder der U-Bahn fahren, oder aber der Platz an unserem Schreibtisch, am Steuer unseres Wagens oder gar in der Küche, so ist das in Wirklichkeit ein Zustand innerer Ruhe in unserem Bewußtsein.
Die Christliche WissenschaftChristian Science (kr’istjәn s’aiәns) mißt dem Gebet große Bedeutung bei. Sie betont, daß ein geistiges Verständnis von Gott und der Beziehung des Menschen zu Ihm das einzig mögliche Mittel zur Erlösung, ja, zur Lösung des Problems des Seins ist. Gebet ist der Weg, auf dem diese lebenswichtige Aufgabe erfolgreich bewältigt werden kann.
Gebet schließt den ehrlichen Wunsch nach rechtem Denken und Handeln ein. Es muß aber auch von der Überwindung des Selbst und dem Entschluß erfüllt sein, Gott an die erste Stelle zu setzen. Wenn wir das Selbst in diesem Sinne überwinden, siegen wir über jeden Anspruch der Begrenzung. Wir brauchen nur den biblischen Bericht über des Meisters Ringen und seine völlige Unterordnung unter Gottes Willen im Garten von Gethsemane zu studieren, um zu verstehen, warum dieser Sieg so vollständig war. Jesus konnte sagen: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ 26:39.
Mary Baker Eddy, die uns die geistige Auslegung zum Gebet des Herrn gegeben hat (s. Wissenschaft und Gesundheit, S. 16), schreibt in diesem Buch: „Nur wenn wir uns über alle materielle Sinnengebundenheit und Sünde erheben, können wir das vom Himmel stammende Streben und das geistige Bewußtsein erreichen, auf das in dem Gebet des Herrn hingewiesen wird und das die Kranken augenblicklich heilt.“ Wissenshaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 16.
Was macht das Gebet des Herrn so wirkungsvoll?
Es bestätigt, daß Gott gerade da existiert, wo wir sind. Gott ist Alles. Und Seine Allheit schließt Seine Schöpfung, den Menschen und das Universum (alles, was erschaffen worden ist) in die zärtlichste, liebevollste, stärkste, wirkungsvollste und schützendste Beziehung ein, die überhaupt möglich ist. Dieses Gebet bestätigt, daß Gott gut ist — völlig gut — und daß Er unseres rückhaltlosen Vertrauens und unserer hingebungsvollen Anbetung würdig ist, und zwar ohne jede Furcht, ohne jeden Vorbehalt oder Zweifel. Wenn wir im Gebet bis zu diesem Punkt vorgedrungen sind, wird uns klar, daß die Phänomene des persönlichen Sinnes schwinden müssen und daß der Mensch geistig ist, die Widerspiegelung des Geistes, Gottes. Dies ist ein herrlicher Hinweis auf das geistige Verständnis von Gebet; und mit diesem Aufdämmern nähern wir uns der Schwelle zur Erfüllung unseres Gebets. Wir überschreiten diese Schwelle, wenn wir akzeptieren, daß Gottes Gegenwart — Sein Reich und Seine Macht — jetzt die immer gegenwärtige Tatsache der Harmonie ist, und zwar genau da, wo Disharmonie zu sein scheint.
Das Gebet des Herrn lenkt das Denken dann ganz natürlich in die sanfte, tröstende und freudige Atmosphäre, in der wir uns völlig dem Willen des Vaters unterordnen, durch den alles geschaffen und alles für gut erklärt worden war. Durch Gebet werden wir dazu geführt, diese völlige Güte zu erkennen, zu akzeptieren und ihr absolut zu vertrauen. Diese Güte ist ein unwandelbares Gesetz, das Irrtum, Haß, ja Böses jeder Art ausmerzt. Der Christliche Wissenschafter wird dazu angehalten, beständig auf der Hut zu sein und die Finten des Irrtums oder der Schlange, auch tierischer Magnetismus genannt, zu durchschauen. Vertrauen auf die Allmacht des Guten, das wir durch beständiges, korrektes Gebet erlangen, ist ein nie versagendes Mittel, gerade dies zu tun.
Als ich über all dies nachdachte, erkannte ich mit zunehmender Freude, daß das Streben nach rechtem Beten zu einem wachsenden geistigen Verständnis von Gebet führt, und dies wiederum führt das Denken zum wahren geistigen Bewußtsein. Das ist das Ziel; kein anderes ist notwendig oder erforderlich. Auch war ich darüber erstaunt, wie sehr mein Denken schon durch diese kurze Überprüfung der ersten vier Sätze des Gebets des Herrn, wie es im Matthäusevangelium niedergeschrieben wurde, erweitert worden war. Sie lauten: „Unser Vater in dem Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“ Matth. 6:9, 10.
Und wie steht es mit den verbleibenden vier Sätzen? Jetzt fühlte ich mich durch den sich geistig erweiternden Horizont herausgefordert: „Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ V. 11–13.
Unser himmlischer Vater versorgt uns täglich mit allem, was wir benötigen. Berichtet nicht die Bibel, daß Er dem Menschen Herrschaft über alles verlieh, was Er gemacht hat, und daß alles völlig gut war und ist? Des Menschen Erbe ist daher die Herrschaft über das Gute. Obgleich ich die Unermeßlichkeit dieses Erbes nicht voll erfaßte, konnte ich doch erkennen, daß der Mensch als Gottes Widerspiegelung nur von Gott abhängig ist; daß wir, da wir unsere wahre Existenz in niemand anderem finden können, in unserer Liebe stark genug sein können, um alle — jede Idee Gottes — gleichermaßen durch denselben liebenden Vater versorgt zu sehen, und dadurch unseren Nächsten von materiellen Begrenzungen aller Art so lösen, wie wir uns selbst von ihnen frei machen. Ich erkannte, daß hierzu beständiges Gebet, verbunden mit rechtem Denken und Handeln, erforderlich sein würde, was für irrige Suggestionen meinen Tag auch zu überschatten suchen mochten.
Die Christliche Wissenschaft gibt uns in dieser Frage sichere Anleitung. Sie betont, wie wichtig das tägliche Gebet ist und daß wir dazu verpflichtet sind. Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, schreibt: „Eines habe ich innig gewünscht, und ich bitte noch einmal ernstlich darum, daß die Christlichen Wissenschafter, hier und überall, täglich für sich selbst beten, nicht hörbar noch auf Knien, sondern im Herzen, demütig und inbrünstig.“ Sie fahrt dann fort: „Wenn dieses Herz, demütig und vertrauensvoll, die göttliche Liebe ehrlich bittet, es mit dem Brot des Himmels, mit Gesundheit und Heiligkeit zu speisen, wird es befähigt, die Erfüllung seiner Bitte zu erlangen; dann wird ‚Seine Wonne‘ es tränken ‚wie mit einem Strom‘, dem Strom der göttlichen Liebe, und großes Wachstum in der Christlichen Wissenschaft wird folgen, eben jene Freude, die das eigene Gute in dem des anderen findet.“ Vermischte Schriften, S. 127.
So gewann ich an jenem Tag im Wald ein besseres Verständnis vom Wesen des Gebets im Kämmerlein. Ich erkannte, daß jeder einzelne durch wirksames Gebet immer den notwendigen Schutz und die notwendige Weisung für die Erledigung seiner täglichen Pflichten empfängt. Mir wurde klar, daß wir immer Gelegenheit haben, in unser Kämmerlein zu gehen, um uns die Macht des Gebets zunutze zu machen, denn dieses Kämmerlein ist unser immer bestehendes Bewußtsein von Gottes unmittelbarer Gegenwart.
Aber wie steht es mit der Versuchung? Sie scheint sicherlich bisweilen hartnäckig und unwiderstehlich zu sein. Versuchung, die auf Eigenwille beruht, der sich immer durchsetzen will, möchte uns vom Beten abhalten. Das Bewußtsein, das beständig mit Gebet erfüllt ist und alles Gott anheimstellt, wird zur Wachsamkeit erzogen. Die Versuchung möchte eine Denk- und Handelsweise einführen, die durch persönliche Willenskraft auf sich aufmerksam macht — durch Selbstgefälligkeit der einen oder anderen Art. Wir können sie aber sofort verneinen, in Frage stellen und mit einem ernsten „Hebe dich weg von mir, Satan!“ Matth. 4:10. abweisen.
Gott führt uns nicht in Versuchung. Er führt, liebt, erhält, lenkt, regiert und belohnt uns. Gebet enthüllt, daß dies wahr ist; es versorgt uns durch geistiges Bewußtsein mit dem richtigen Verständnis von der Macht des Guten, das erforderlich ist, um uns vor den Verlockungen des Teufels, genannt Eigenwille, Selbstgerechtigkeit, Selbstgefälligkeit, schützen zu können. Auf diese Weise erlöst uns Gott von der Versuchung — von Sünde, Krankheit und Tod. Er gibt uns stets die Kraft und die Gelegenheit, den Sieg davonzutragen.
Lobet Gott! Alle Macht und alle Ehre sind Sein! Durch Gebet lernen wir, was wahr ist: Der Mensch ist jetzt die Widerspiegelung, das Ebenbild des einen vollkommenen Gottes, der Geist, Leben und ewiglich unendlich gut ist. Gott ist allmächtig, und diese Macht ist völlig gut. Gott ist und bleibt in wundervoller Weise Alles.
Jesus gab das Beispiel; er zeigte den Weg. Er veranschaulichte, daß das Gebet des Herrn völlig ausreicht, um dem aufrechten Sucher zu zeigen, wie er ihm folgen kann. In dem Maße, wie wir den Geist seiner Botschaft verstehen, ist das Gebet des Herrn in jeder Lebenslage voll anwendbar — ein Gebet für alle Zeiten.
