Ein junger Ehemann kam zu einem Ausüber der Christlichen Wissenschaft und bat um gebetvollen Beistand für seine Ehe. Einige Monate zuvor war es zwischen ihm und seiner Frau zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. In ihrer Erregung hatten sie einander lieblose Worte an den Kopf geworfen. Obgleich sich die Eheleute danach geküßt und wieder versöhnt hatten, waren doch verletzte Gefühle zurückgeblieben. Beide Partner empfanden eine Kluft zwischen sich, die scheinbar nicht heilen wollte.
Der Ehemann sagte dem Ausüber, daß er — ebenso wie seine Frau — ernstlich bemüht sei, die Situation durch die Christliche Wissenschaft zu heilen. Trotzdem fühle er sich noch immer seiner Frau entfremdet. Auf die Frage, wie er in seiner metaphysischen Arbeit vorgegangen sei, erwiderte der Ehemann, er habe sich bemüht, den von Gott erschaffenen, vollkommenen Menschen zu sehen und zu lieben.
„Das ist wichtig“, entgegnete der Ausüber, „aber haben Sie sich auch klargemacht, daß sie tatsächlich dieser vollkommene Mensch ist? Und handeln Sie so, als ob Sie das auch glaubten?“ Der Ausüber verwies dann auf die Stelle im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, wo es heißt: „Johannes sah das Zusammentreffen des Menschlichen und Göttlichen, wie es sich im Menschen Jesus zeigte, als die Göttlichkeit, die die Menschlichkeit im Leben und dessen Demonstration umfaßt und die der menschlichen Wahrnehmung und dem menschlichen Verständnis das Leben erschließt, das Gott ist.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 561.
In unserer metaphysischen Behandlung für uns selbst oder andere sollten wir uns fragen: „Sehe ich, daß es nicht zwei Wirklichkeiten gibt, sondern nur eine — und daß diese eine nicht theoretisch oder abstrakt ist, sondern in unserer gegenwärtigen Demonstration von Leben und Liebe an den Tag kommt?“ Wenn ja, werden wir sehen und fühlen — geistig wahrnehmen —, daß der von Gott erschaffene Mensch und derjenige, für den wir beten, miteinander übereinstimmen. Und wir werden uns von ganzem Herzen bemühen, dementsprechend zu denken und zu handeln.
Das alles bewirkende Element in der Heilarbeit ist Liebe. Es ist das Maß unserer christlichen Liebe und Barmherzigkeit, das uns befähigt, andere so zu sehen, wie sie wirklich sind. Ohne diese wahre Liebe und Zuneigung sind wir blind für die geistige Wirklichkeit, wieviel wir auch vom Buchstaben der Christlichen Wissenschaft kennen mögen. Um heilen zu können, müssen wir die Menschheit mit christlicher Inbrunst lieben und unsere Mitmenschen „in das Leben und seine Demonstration“ einschließen.
Der Ehemann erkannte, daß er das tun mußte. Es wurde ihm klar, daß er gemeint hatte, er könne ein abstraktes, gedankliches Ideal „lieben“, als wäre seine Frau nicht in Wirklichkeit der wahre Ausdruck Gottes. Kein Wunder, daß seine Gebete so wenig Erfolg gehabt hatten! Und es war auch kein Wunder, daß seine Frau so wenig heilende Liebe verspürt hatte. Der Ehemann hatte sich der Illusion hingegeben, er könne heimlichen Groll hegen und zu seiner Frau lieblos sein, während er gleichzeitig „ihr wahres Selbst liebte“. Welch ein Unsinn! Schon seine Handlungsweise zeigte, daß er den wahren Menschen nicht sah.
Glücklicherweise begriff der Ehemann, daß die göttliche Liebe demonstriert werden muß, indem man die Liebe lebt — durch Freundlichkeit, Geduld, Demut, aufrichtige Anerkennung und Förderung des Guten im anderen, durch Heilen. Mit dem freiwilligen Verzicht auf Vorrechte, der Überwindung von Stolz und durch liebevollere Zuneigung wurde die geistige Idee der Ehe als die Vereinigung geistiger Werte besser verstanden, und bald danach war die Kluft zwischen den Ehepartnern geheilt.
Ist es nicht die Aufgabe jedes christlichen Metaphysikers oder Heilers, die Menschheit mit der wahren Idee der Liebe zu umfangen und dadurch das Zusammentreffen des Menschlichen und des Göttlichen augenfällig zu machen? Das Lehrbuch sagt uns u. a.: „Die Göttlichkeit des Christus wurde in der Menschlichkeit Jesu offenbar.“ Ebd., S. 25. Sollten wir, seine jetzigen Nachfolger, nicht wenigstens danach streben, unser Dasein zu einem lebendigen Zeugnis vom Wesen Gottes zu machen? Und zwar veranschaulichen wir die göttliche Idee in unserer Menschlichkeit dadurch, daß wir so lieben, wie Christus Jesus liebte, und daß wir für unser Bekenntnis zur Christlichen Wissenschaft mit unserem Herzen und Leben eintreten.
Geistige Liebe ist letzten Endes der Sinn des Lebens. Gibt es einen besseren Grund zu leben, als zu lieben und geliebt zu werden? Nichts ist sinnvoll oder ewig außer dem, was Liebe bekundet. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn uns Johannes auffordert: „Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“ 1. Joh. 3:18. Durch Liebe, die „mit der Tat und mit der Wahrheit“ demonstriert wird, erfahren wir das Einssein mit dem Vater, das bewußte Leben selbst. Nichts Geringeres ist ewiges Himmelreich.
Was nun den Theoretiker vom wahren Christlichen Wissenschafter unterscheidet, sind sein Leben und sein Charakter. Unsere sich vertiefende Menschenliebe, Zuneigung, Freundlichkeit, Geduld und Ehrlichkeit beweisen, daß wir tatsächlich das Bewußtsein von der geistigen Wirklichkeit gewinnen. Praktisch jeder kann den Auffassungen der Christlichen Wissenschaft intellektuell zustimmen und in deren Darlegungen bewandert, ja sogar meisterhaft werden. Aber nur diejenigen, die sich bemühen, Christen zu sein, und zwar in der vollen Bedeutung des Wortes, können tatsächlich die Wirklichkeit sehen und sie mit ständig wachsender Sicherheit und Kraft demonstrieren. Christi Weg ist für alle klar erkennbar. Die Bergpredigt faßt die Forderungen der Liebe zusammen und gebietet, die Liebe im täglichen Leben überall und zu jeder Zeit auszudrücken.
Selbstverständlich haben viele den ehrlichen Wunsch, Christus, Wahrheit, gehorsam zu sein, wissen aber nicht, wie sie solchen gebieterischen Forderungen ihres Meisters gehorchen können wie: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ Matth. 5:44. Wie können wir einen Feind lieben? Wie können wir jemanden lieben, der uns offenbar haßt? Oder jemanden, der uns unrecht getan hat? Und wenn wir uns die heutige Welt ansehen, könnten wir uns fragen: „Wenn, die Göttlichkeit ... die Menschlichkeit ... umfaßt‘, bedeutet das nun, daß wir allen Ernstes den Mörder lieben sollen, den Vergewaltiger — jene rohen und verkommenen Typen der menschlichen Gesellschaft, die die Geißel unserer Welt sind?“
Christliche Liebe sollte mit der wissenschaftlichen Gewißheit erfüllt sein, daß das Zusammentreffen des Menschlichen mit dem Göttlichen nicht ein Übereinstimmen des Guten mit dem Bösen ist, des Geistes mit der Materie. Die Tatsache, daß die Göttlichkeit die Menschlichkeit umfaßt, bedeutet nicht, daß Wahrheit den Irrtum umfaßt! Diese Gegensätze können niemals einander berühren noch übereinstimmen. Nur für den sterblichen Sinn scheinen das Wirkliche und das Unwirkliche sich zu vermischen und nebeneinander zu bestehen. Doch das Böse ist niemals der Mensch! Die Liebe, die christlich-wissenschaftlich ist, zerstört die dualistische Illusion von einem „guten und bösen“ Menschen. Sie trennt das Wirkliche vom Unwirklichen, indem sie uns klarmacht, daß das Gute göttlich und das Böse eine Täuschung ist — weder Person, Ort noch Ding. Auf diese Weise wird das Böse wissenschaftlich zerstört — entpersönlicht —, und das menschliche Wesen wird in die heilende Wahrheit eingeschlossen.
Jedoch kann die wissenschaftliche Antwort „Wir lieben nicht den Sünder oder die Sünde. Wir lieben den wirklichen, geistigen Menschen“ etwas leichtfertig gegeben werden, mit wenig Verständnis für die tiefergehenden Forderungen der göttlichen Liebe. Unsere Liebe ist nur insoweit wahrhaft wissenschaftlich und christlich, wie wir erkennen, daß es nicht zweierlei Menschen gibt. Wie der bereits erwähnte Ehemann angefangen hatte zu begreifen, daß es tatsächlich nur einen Menschen, den von Gott geschaffenen Menschen, gibt, genauso wird unsere feste Überzeugung, daß das Gute und das Böse nicht im Menschen zusammen bestehen, unsere Fähigkeit und Verantwortlichkeit, unseren Nächsten mit einer tiefen und von Herzen kommenden Zuneigung zu lieben, nicht aufheben, sondern erweitern.
Daher kann die Frage „Lieben wir den scheinbaren Sünder?“ sowohl mit einem christlichen „Ja“ als auch mit einem wissenschaftlichen „Nein“ beantwortet werden. Durch die Gnade Gottes müssen wir diejenigen, die unsere Feinde zu sein scheinen, buchstäblich lieben — und uns bemühen, sie zu lieben. Und wann immer es menschlich möglich ist, sollten wir denen, die uns hassen oder uns schlecht behandeln, Gutes erweisen und zu ihnen freundlich sein. Wie anders kann es erkannt werden, daß die Göttlichkeit die Menschlichkeit „im Leben und dessen Demonstration“ umfaßt? Wie sonst gelingt uns der geistige Durchbruch, der uns befähigt, Gottes Idee zu sehen, es sei denn, wir bemühen uns, zu lieben?
Selbstverständlich müssen wir weise sein; der Meister warnt uns davor, unsere Perlen vor das säuische Denken zu werfen, das sich gegen uns wenden und uns zerreißen könnte. Siehe Matth. 7:6. Und wie sehr Jesus auch die anderen liebte, so verbarg er sich doch oft vor dem Haß und der Beobachtung durch das fleischliche Gemüt. Aber könnten wir nicht unsere Liebe zum wirklichen Menschen, zu der wir uns bekannt haben, viel öfter durch echte Beweise der Liebe und Freundlichkeit gegen diejenigen zeigen, die sie vielleicht nicht zu verdienen scheinen?
Niemand sagt, daß das leicht sei. Es erfordert große Demut, selbstlos zu lieben — Feindseligkeit, Furcht, verletzte Gefühle und verwundeten Stolz beiseite zu setzen. Aber ist diese Bekundung der göttlichen Liebe nicht die Ehrfurcht einflößende, alles übertreffende Liebe des Christus? Ist es nicht die vergebende Liebe, die Jesus sogar denen gegenüber ausdrückte, die ihn kreuzigten? Ist es nicht die erhabene Liebe, die Jesus in Gethsemane bekundete, als „sein Schweiß wie Blutstropfen“ Luk. 22:44. ward, während er darum rang, Gottes Willen zu tun und Liebe zu bleiben? Das Lehrbuch gibt uns die geistige Erklärung für „Gethsemane“: „Geduldiges Leiden; das Menschliche gibt dem Göttlichen Raum; Liebe, die keine Erwiderung findet und doch Liebe bleibt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 586.
Jemanden zu lieben, der uns weh getan hat, liebevolle Zuneigung dem zu erweisen, der sie uns ins Gesicht zurückschleudert oder sie verrät, mag in der Tat ein Gethsemane sein. Unsere Erfahrung mit einem Freund oder dem Ehepartner, mit Kindern oder Kirchenmitgliedern mag sehr wohl „geduldiges Leiden“ in sich schließen. Aber in dem feurigen Ofen der „Liebe, ... die Liebe bleibt“ weicht das Menschliche dem Göttlichen; unser Wesen wird umgestaltet, und geistiger Fortschritt, der über alles menschliche Vorstellungsvermögen hinausgeht, tritt ein. Selbstlose Liebe und Barmherzigkeit ist der Weg des Christus, und das muß auch unser Weg sein, wenn wir dem Christus folgen und seinen Kelch trinken wollen.
Welche Freude und welche Segnungen empfangen wir doch von unserem himmlischen Vater, wenn wir unbeirrt lieben, wenn wir auch im Angesicht des Hasses an der geistigen Idee des Menschen, der Ehe, der Kirche — alles dessen, was geistig wirklich ist — festhalten! Wir kennen die Freude des Christus; die Freude des gehorsamen Sohnes; die Freude, sich von der göttlichen Liebe eingeschlossen zu fühlen; die Freude, die uns die Kraft gibt, Liebe zu bleiben, selbst wenn sie keinen menschlichen Widerhall findet.
Im Lehrbuch sind unter „Wissenschaftliche Übertragung vom sterblichen Gemüt“ folgende moralische Qualitäten aufgeführt: „Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Herzenswärme, Erbarmen, Hoffnung, Glaube, Sanftmut, Mäßigkeit.“ Ebd., S. 115. Wenn die Göttlichkeit des Christus in der Menschlichkeit offenbar wird, wie das Lehrbuch erklärt, zeigt sie sich dann nicht auch in jeder dieser anderen Eigenschaften?
Achten wir doch darauf, daß die Göttlichkeit des Christus in unserer Ehrlichkeit, unserer Herzenswärme, unserem Erbarmen, unserer Hoffnung, unserem Glauben, unserer Sanftmut und Mäßigkeit Ausdruck findet! Diese christlichen Eigenschaften sind das Tor zum Himmel, zum Bewußtsein der Wirklichkeit. Sie gehen auf dem Weg zu wahrer Geistigkeit voran und bereiten ihn. Ihr Erscheinen bestätigt uns, daß wir zu unserem Erbe als Söhne und Töchter Gottes erwachen.
 
    
