Ich wurde einmal Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen einem Vater und seiner Tochter. Der Vater bezog sich auf Christi Jesu Anweisung in der Bergpredigt und forderte seine Tochter auf, erst einmal den Balken aus ihrem Auge zu ziehen, bevor sie sich mit dem Splitter in seinem Auge befasse! Er hatte es gewiß in guter Absicht gesagt. Doch was ich gehört hatte, machte mich nachdenklich. Eigentlich kann niemand einem anderen den Rat erteilen, den Balken aus seinem Auge zu entfernen, denn Jesu Gebot lautet unmißverständlich: „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.” Mt 7:5.
Wir sind daran gewöhnt, diesen Hinweis von einem rein moralischen Standpunkt aus zu betrachten und die Schuld immer bei uns selbst zu suchen. Das wollen wir aber nicht immer, zumal dann nicht, wenn wir glauben, wir seien im Recht. Wir fragen uns daher: Warum soll gerade ich immer der Schuldige sein? Muß ich das denn?
Zweifellos mag es zuweilen so aussehen, als wäre uns unsere Umwelt feindlich gesinnt. Die Umstände mögen langweilig, wenig verheißungsvoll, häßlich, sogar bedrohlich erscheinen. Andere wiederum sehen in einem oder mehreren Mitmenschen ihre Peiniger, beklagen deren Unfreundlichkeit, Gleichgültigkeit, Aggression oder Verständnislosigkeit. Die Christliche Wissenschaft regt uns dazu an, den Fehler, der hinter der negativen Ansicht über unsere Umwelt liegt, in unserem Denken zu suchen, anstatt unseren Blick auf äußere Umstände zu lenken. Aber dies ist nur der erste Schritt. Würden wir den Fehler als uns zugehörig und als einen Teil unseres wahren geistigen Seins betrachten, dann müßten wir verzweifeln. Wir mögen sogar feststellen, daß es uns nicht mehr möglich ist, Dankbarkeit für die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung zu empfinden und auszudrücken und sich ihrer zu erfreuen.
Gestatten wir diesem „Balken” — dieser Annahme, daß wir fehlerhafte Sterbliche seien —, in unser Auge einzudringen, dann nimmt er uns die klare Sicht, blockiert das Auge und macht es blind. Der Balken mag für jeden von uns etwas anderes bedeuten: Egoismus, Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit, Eigenwillen, Unduldsamkeit, Vorurteil, Jähzorn, Unfreundlichkeit oder Gram, Entmutigung, Verwirrung, Selbstbedauern. Ganz gleich, unter welcher Annahme wir leiden, wir müssen erkennen, daß sie ebensowenig zu unserem wahren Sein, dem Ausdruck Gottes, gehört wie der Balken zu unserem Auge. Alles, was diese falschen Eigenschaften repräsentieren, gehört dem unpersönlichen Bösen an. Das Böse ist den Lehren der Christlichen Wissenschaft zufolge jedoch niemals Person, Ort oder Ding. Es ist eine bloße Verneinung dessen, was existiert, eine Täuschung, es gäbe etwas, was sich der göttlichen Herrschaft widersetzt. Die Macht Gottes, das absolute Gute, ist unteilbar. Er kennt kein Gegenteil von sich selbst, denn Er hat keine Rivalen. Außer Ihm gibt es nichts; daher gibt es nichts neben Ihm und Seiner Idee.
Mrs. Eddy sagt in Wissenschaft und Gesundheit: „Der Ego-Mensch ist die Widerspiegelung des Ego-Gottes; der Ego-Mensch ist das Bild und Gleichnis des vollkommenen Gemüts, des Geistes, des göttlichen Prinzips.” Wissenschaft und Gesundheit, S. 281. An anderer Stelle im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft erklärt sie: „Als Gattungsbegriff ist der Mensch einer, und im besonderen bedeutet Mensch alle Menschen.” Ebd., S. 267. Daraus müssen wir schließen, daß der von Gott erschaffene Mensch qualitativ nicht von seinem Schöpfer abweicht. Im Lichte der göttlichen Wahrheit haben alle Menschen den gleichen Ursprung, nämlich Gott, und die gleiche Funktion, nämlich die, das eine göttliche Gemüt zum Ausdruck zu bringen. Die Einmaligkeit und Besonderheit eines jeden ist allein in der von Gott garantierten Individualität begründet. In Wirklichkeit ist daher mein Mitmensch mir weder über- noch untergeordnet, weder mehr noch weniger wert als ich, sondern wir bringen gemeinsam mit allen anderen das göttliche Wesen in seiner Vielfalt und Harmonie zum Ausdruck.
Jesus bezeichnete das Gebot, Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte zu lieben, als das höchste und größte aller Gebote. Aber er fügte noch ein anderes Gebot hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” Siehe Mt 22:35–39. Um dann seinen Mitmenschen wahrhaft lieben zu können, muß man sich selbst als liebenswert akzeptieren. Wer sich also selbst verachtet oder auch nur herabsetzt, ist negativen Gedanken ausgeliefert und kann von ihnen beeinflußt werden. Wie soll es ihm da möglich sein, das Gute, geschweige denn die Vollkommenheit um sich herum zu erblicken oder die Liebe wahrzunehmen, die ihm entgegenströmt? Nur wenn man dankbar anerkennt, daß der Mensch von Gott, Liebe, geliebt wird, und sich bemüht, bei jeder Gelegenheit Liebe zum Ausdruck zu bringen, kann man den lebendigen, frohen, harmonischen Zusammenklang von Gottes Schöpfung erleben. Um aber zugeben zu können, daß man geliebt wird, muß man sich der Liebe wert — liebenswert — fühlen.
Gott hat alles erschaffen, und Er ist Mittelpunkt und Umkreis Seiner gesamten Schöpfung. Er kennt keinen Widerstand, da es nichts gibt, was Ihm widerstehen könnte. Wenn wir also den Balken einer angeblichen Opposition gegen Gott entfernen, indem wir Seine Allheit und Güte verstehen und in Übereinstimmung mit Seiner Güte handeln, wird die Sicht klar. In dieser befreiten Sicht erkennen wir dann, daß der Splitter im Auge unseres Nächsten nicht so bedeutend ist und die Mißstände in unserer Umgebung durchaus überwindbar sind.
Jesus sagte: „Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.” Mt 6:22. Alles, was wir in der Richtung zum Guten hin unternehmen, erfüllt unser Sein mit Licht, denn in allem, was wir im Hinblick auf das Gute tun, sind wir von vornherein Sieger. Jede Bemühung, besser und reiner zu werden, jeder Impuls zur Freude und Liebe läßt die Sonne der Gerechtigkeit heller für uns leuchten. Wir können dankbar die Tatsache akzeptieren, daß wir in Wahrheit alle in Gott, dem göttlichen Prinzip, bestehen und in diesem Prinzip fest, ewig und unwandelbar begründet sind.
