Keuschheit — nicht gerade ein Wort, das man oft hört. Es ist sicherlich kein populärer Begriff — und doch ist Keuschheit für unser geistiges Wachstum absolut unerläßlich.
Woran denken Sie, wenn Sie dieses Wort hören? Denken Sie an Frische und Freiheit? An eine tiefe Geborgenheit, die in etwas Beständigerem wurzelt las den äußeren Umständen? Wenn nicht, dann ist vielleicht ein besseres Verständnis von Keuschheit notwendig. „Keuschheit ist der Zement der Kultur und des Fortschritts“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 57., schreibt Mrs. Eddy in ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit. Fortschritt ist sicherlich nichts Altmodisches.
Wir wünschen uns ein interessantes und farbiges Leben, hätten aber auch gern unerschütterliche innere Stabilität, Gesundheit, Freude, Weisheit, Selbstachtung, ein reiches Maß an Gutem und das Gefühl der Nützlichkeit. Keuschheit hilft uns, unseren Weg zu diesen Lebenselementen zu finden, indem sie uns den Blick für das geistige Leben schärft, wo das wahre Gute beheimatet ist. Aber wie?
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Geist, Gott, gut ist. Da allein Geist immer gegenwärtig und unendlich sein kann, ist das wirklich Gute geistig und unendlich. Es kann nicht auf eine materielle Lebensauffassung begrenzt sein. Der Mensch, geschaffen, um all das Gute auszudrücken, ist das Bild oder die Widerspiegelung des Geistes. Daher ist er geistig. Der Sterbliche ist eine falsche Auffassung vom Menschen, die wir aufgeben oder widerlegen können, wenn wir den wirklichen Menschen und sein geistiges Dasein erkennen.
Wir nehmen das Gute, Geist, mit dem geistigen Sinn wahr. Durch den Gebrauch des materiellen Sinnes, der das Gegenteil des geistigen ist, wird die Betätigung des geistigen Sinnes behindert. Wenn wir lernen möchten, wie wir das geistige Gute besser erfahren können, müssen wir Verhaltensregeln annehmen, die es uns erleichtern, geistige Wahrnehmung zu üben — unsere Fähigkeit, Gottes liebevolle Gegenwart zu verstehen und zu fühlen. Einige Verhaltensregeln kommen dem Leben im Geist näher als andere, und eine davon ist Keuschheit.
Menschliche Weisheit und menschliche Zuneigung erfordern Keuschheit als eine geistig inspirierte Disziplin, und wir müssen sie richtig schätzen lernen — ganz gleich, ob wir verheiratet sind oder alleinstehend. Zurückhaltung ist ein erster Schritt hin zur Vergeistigung des Denkens. Ein körperlicher Drang, dem zügellos nachgegeben wird, gibt der Materie dementsprechend unbeschränkte Macht in unserem Leben. Wenn wir Herr sein möchten über den Glauben an die Schmerzen der Materie, können wir uns keinen Glauben an ihre Freuden erlauben, indem wir uns sexuell undiszipliniert verhalten. Solch eine Handlungsweise verwirrt unser Denken mit körperlichen Empfindungen und Regungen. Sie stellt unsere materiellen, egozentrischen Wünsche vor den Gehorsam gegen Gott. Gefühle erlangen größere Herrschaft über uns, lassen uns entweder abstumpfen oder unsere Selbstbeherrschung verlieren und anfälliger werden. In beiden Fällen umgehen wir den wahren Schutz vor Schaden — Schutz, den wir durch eine eher geistige, selbstlose Zuneigung erlangen können.
Keuschheit stellt hingegen Gott, Prinzip, an die erste Stelle. Sie hilft uns, Liebe anstatt Sinnlichkeit auszudrücken. Sie entspringt einer tiefen Liebe zu Gott, zur Reinheit, Unschuld, zu unserem wahren geistigen Wesen. Sie trägt dazu bei, unser Denken von dumpfem Materialismus zu befreien, denn sie ist nicht empfindungsorientiert, sondern auf Geist orientiert. Sie erhöht unsere Aufnahmefähigkeit für die frischen und befriedigenden Gedanken der Seele. Wenn wir uns an das moralische Gesetz halten, wird unser Bewußtsein vom geistigen Gesetz, von Gott als Prinzip, dem unveränderlichen Guten, das alles regiert, gestärkt. Unter diesem Gesetz fühlen wir uns frei. Größere Harmonie ist die Folge.
Der tierische Magnetismus, die Annahme von Empfindung in der Materie, argumentiert vielleicht, daß ungehemmtes Verlangen „natürlich“ sei. Lassen wir uns nicht zum Narren halten. Der Apostel Paulus warnt uns: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes.“ 1. Kor 2:14.Wir sollten uns vielleicht fragen: „Trifft diese undisziplinierte Verhaltensweise auf Gottes Menschen, das Kind des Geistes, zu oder auf den Sterblichen?“ Christus Jesus verdammte aus seiner unübertroffenen Liebe zur Menschheit heraus Unzucht, Sexualbeziehungen zwischen Unverheirateten. Siehe Mt 15:19, 20. Unter Paulus’ vielen Warnungen zu diesem Thema findet sich seine nachdrückliche und schlichte Aufforderung: „Flieht der Hurerei!“ 1. Kor 6:18. Und Mrs. Eddy stellt Keuschheit auf die gleiche Stufe mit Nächstenliebe und Sinnenlust mit Haß, wenn sie sagt: „Die Christliche Wissenschaft gebietet dem Menschen, die Triebe zu meistern — Haß mit Freundlichkeit im Zaum zu halten, Sinnenlust durch Keuschheit, Rache durch Menschenliebe zu besiegen und Unehrlichkeit mit Ehrlichkeit zu überwinden.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 405.
Energisches Festhalten an unserer Unschuld erleichtert es uns, sie in einer Zeit echter Prüfung weiter auszudrücken. Verliebtsein kann eine besondere Herausforderung darstellen, weil wir uns dem anderen so nahe fühlen. Manchmal scheint das Verliebtsein neue Regeln und Prioritäten zu schaffen. Was vorher als falsch angesehen wurde, kommt uns plötzlich halb so schlimm vor oder ist vielleicht gar zu rechtfertigen. Unsere menschlichen Gefühle sind freilich nicht der beste Ratgeber dafür, was richtig oder falsch ist, auch nicht dafür, was das wahre Glück ausmacht. Gott ist die wahre Quelle unseres Glücks, unserer Liebe und Weisheit. Wenn wir auf Ihn lauschen, wissen wir intuitiv, wann eine Situation unseren geistigen Fortschritt gefährdet oder behindert.
Auch eine Verlobung befreit uns nicht von der Notwendigkeit, die Forderungen des körperlichen Sinnes an Disziplin zu gewöhnen, denn mit diesem Schritt bekunden wir nur unsere Absicht, eine feste Bindung einzugehen. Keuschheit zeugt von Geduld. Eine Ehe, die aus edlen Beweggründen geschlossen wird, wie sie im gleichnamigen Kapitel des Buches Wissenschaft und Gesundheit beschrieben werden, hebt unser Verhältnis zu denen, die wir lieben, auf eine höhere Ebene; denn die Partner bezeugen einander so viel Liebe, daß sie einen lebenslangen gesetzlichen Bund schließen und ihre Liebe zur höchsten Natur des anderen vor körperliche Regungen stellen. Die Gesellschaft wird durch solche geistige Zuneigung bereichert.
Schon früh wurde ich in meiner Jugend bei Verabredungen mit den sogenannten „neuen Moralvorstellungen“ konfrontiert, nach denen Keuschheit als altmodische Prüderie abgelehnt wurde. Die Argumente klangen vernünftig, aber nach einer Weile wollte ich wissen, was Gott mir sagen würde. Nachdem ich eines Tages in Wissenschaft und Gesundheit das Kapitel über die Ehe gelesen hatte, erhielt ich folgende Antwort: Menschliche Sexualität ist eine materielle Kraft, wie Feuer oder Wasser, und alle diese Kräfte müssen in der einen oder anderen Form eingedämmt werden, damit sie nicht außer Kontrolle geraten und Schaden anrichten. Mir wurde klar, daß die Institution, die diese Aufgabe der Eindämmung für die Sexualität übernimmt, die Ehe ist. Ich sah ein, daß der kleine Beitrag, den ich zur Stabilität der Gesellschaft und zum „Zement der Kultur“ leisten konnte, darin bestand, mich in Keuschheit zu üben.
Für diese umwandelnde Inspiration bin ich seitdem viele Male dankbar gewesen. Einige Jahre später, bevor ich meinen Mann kennenlernte, verliebte ich mich in einen jungen Mann aus Kreisen, in denen voreheliche Keuschheit praktisch unbekannt und eigentlich unvorstellbar war. Ich wußte aber, daß ich diesem Weg treu bleiben wollte. Monatelang wurde ich auf unterschiedlichste Weise gedrängt, das aufzugeben, von dem ich wußte, daß es richtig war, und mich den vorherrschenden Normen anzupassen. Täglich mußte ich dagegen ankämpfen. Das fiel schwer. Aber ich liebte Reinheit, und mein Verlangen nach Reinheit war einfach stärker als alle anderen Wünsche. Ich wollte meiner geistigen Natur nicht zuwiderhandeln — jener Natur, über die wir durch unser Gewissen erfahren.
Die Versuchung wurde stärker. Doch dann spürte ich eines Tages plötzlich, daß die aggressive körperliche Anziehung ihren Ursprung in etwas hatte, was von dem jungen Mann und mir völlig getrennt war. Ihr Ausgangspunkt war die Annahme, daß es Leben in der Materie gebe und daß unsere aufrichtigen Gefühle füreinander dazu dienen könnten, diese Annahme zu tarnen und sie so zu fördern. Diese Erkenntnis brach den hypnotischen Bann, in den mich die körperliche Anziehung gezogen zu haben schien. Ich wehrte mich dagegen, benutzt zu werden! Danach wurde unsere Beziehung allmählich reiner, ruhiger und liebevoller. Es entwickelten sich Elemente echter, tiefer Freundschaft; ihre Auflösung, ein oder zwei Jahre später, aus der Entfernung und aus Weisheit geboren, verlief friedlich. Meine Entscheidung für Reinheit hat uns beiden geholfen, uns Gott näher zu fühlen und für Seine Führung empfänglich zu sein.
Das weltliche Denken legt uns vielleicht nahe, daß wir Gefühle und Empfindungen voll ausleben sollten. Aber Sinnlichkeit bietet nur eine vorübergehende und letztlich leere Befriedigung. Keuschheit, die oft mit Reinheit verbunden ist, vertieft unser Erleben durch eine Befriedigung und eine Freiheit, die uns die körperlichen Sinne nie geben können. Sie verankert uns im Geist, wenn der Traum vom Leben in der Materie — der sich als Spott, Vorwurf, sterbliche Gedankengänge, Depression, Zweifel oder überwältigende Gefühle zeigt — uns tiefer in die Annahme hineinzutreiben oder gar darin zu versenken sucht, daß es ein von Gott getrenntes Dasein gebe.
Ist nicht die Erkenntnis großartig, daß wir immer „nein“ sagen können? Und dieses „Nein“ ist ein „Ja“ — ein „Ja“ zu größerer Geborgenheit in unseren menschlichen Beziehungen, zu größerer Klarheit, wenn wir Entscheidungen über sie zu treffen haben, und zu einer tief verwurzelten Unerschütterlichkeit, wenn diese Beziehungen einen unerwarteten Lauf nehmen. Keuschheit gründet sich auf Gottvertrauen. Sie verstärkt unsere Fähigkeit, die Dauerhaftigkeit der geistigen Einheit in stabileren menschlichen Bindungen zu demonstrieren. Sie bewirkt außerdem, daß Unreinheit aus unserem Leben verbannt wird. Ihre Rechtfertigung liegt allerdings nicht in Argumenten, sondern in der daraus folgenden kostbaren Gewißheit, daß wir Gott näher sind.
Keuschheit segnet unsere Kirchenarbeit; jedes Kirchenamt verlangt nach einer mentalen Atmosphäre, die unsere Demonstration der Reinheit, der Gesundheit und Heiligkeit fördert — eine Demonstration, die unsere Welt so dringend braucht. Kein Kirchenmitglied — kein Sonntagsschullehrer, Leser, Ordner, kein Vorstandsmitglied — kann seine Pflicht erfüllen, es sei denn, es erkennt die Rolle an, die der Moral bei der Förderung der Geistigkeit zukommt. Wir, unser Zuhause, unsere Kinder, profitieren von dem reinen, beschützenden Einfluß dieser Anerkennung. Außerdem macht sie uns geistig empfänglicher für die moralischen Fragen anderer Sachverhalte, die bei unserer Arbeit auftauchen.
Doch was können wir tun, wenn wir den Fehler gemacht und uns sexuell eingelassen haben, aber damit aufhören möchten? Können wir überhaupt damit aufhören? Ja, aber wir müssen das auch wirklich wollen. Entscheidend ist der aufrichtige Wunsch dazu. Es mag Kämpfe kosten, und wir müssen vielleicht geistig noch sehr viel wachsen, doch wenn wir uns wirklich danach sehnen, unsere geistige Unschuld auszudrücken, werden wir die von Gott hervorgebrachte Weisheit und Stärke finden, es auch zu tun. Im Gebet wird uns klar, daß Gott auf jedem Schritt des Weges bei uns ist. Und in dem Maße, wir ernsthaft nach Reinheit streben, werden wir aus der Situation, die unseren geistigen Fortschritt begrenzt, herausgeführt oder ändern sich die äußeren Umstände dieser Situation oder aber erlangen wir die Weisheit und Stärke, unseren Weg selber da herauszufinden. Es mag notwendig sein, daß wir wiederholt im Gebet energisch die unbefleckte Natur des Menschen als die unsere beanspruchen. Aber unsere Liebe zu Gott, die ja auch von Gott herkommt, ist stärker als alles andere. Wir können uns an diese Liebe klammern und erkennen, daß Gott uns liebt und uns sicherlich nie im Stich läßt. Gefühlsseligkeit, die ja dem Glauben an körperliche Personen entspringt, muß dem glücklicheren Bewußtsein weichen, daß die göttliche Liebe allgegenwärtig ist. Die heimtückische Annahme, daß der Mensch von allen Tieren bloß das höchstentwickelte sei, kann uns niemals die gottgegebene Fähigkeit nehmen, in Übereinstimmung mit unserer einen, geistigen Natur zu handeln. Und in Wirklichkeit kann der geistige Mensch — unser aller wahres Sein — das Prinzip nicht verlassen oder es mißachten. Keuschheit drückt somit das aus, was über uns wahr ist. Keuschheit bedeutet nicht, sich mit verzweifelter Anstrengung einer fremden Norm anzupassen. Sie ist vielmehr geistig natürlich.
Wir brauchen keine Angst zu haben, daß wir durch unseren Gehorsam gegen das Prinzip etwas Gutes verlieren werden, da Prinzip die Quelle alles wahren Guten ist. Gott segnet den Gehorsam. Wir haben sehr wohl den moralischen Mut, für das einzustehen, was richtig ist. Wir können darauf vertrauen, daß die göttliche Liebe unser Bedürfnis nach menschlicher Zuneigung stillt. Und wenn wir auch darauf daß die göttliche Liebe für uns sorgt, dann können wir auch darauf vertrauen, daß sie ebenso für andere sorgt. Wir und alle anderen Menschen in unserem Umkreis werden dann weit mehr gesegnet, als wir vielleicht ahnen — mit mehr Gutem, als es unmoralische Umstände je vermöchten.
Wir stehen mit unseren moralischen Überzeugungen nicht allein da, kämpfen nicht etwa eine einsame oder verlorene Schlacht inmitten einer sinnlichen Gesellschaft. Geist ist unendlich viel größer als die Summe aller sterblichen Meinungen, als aller Spott und alles Unverständnis! Auch wenn es nicht so aussehen mag: Der Materialismus ist auf der Flucht, und Geist hat den Sieg schon errungen. „Die Geistigkeit zieht offen gegen den Materialismus zu Felde“, schreibt Mrs. Eddy. Dann aber fragt sie: „Auf welcher Seite kämpfen wir?“ Ebd., S. 216. Keuschheit kämpft auf der Seite des Geistes.
