Vor Etwa 40 Jahren war ich Oberschüler im Osten Deutschlands. Das politische System dort hatte ich mir nicht selbst ausgesucht. Die offiziellen Ideologien waren der Marxismus und der sogenannte wissenschaftliche Materialismus, und für irgendeinen anderen Glauben gab es wenig Toleranz.
Da wurde mir eines Tages klar, daß jeder Mensch selbst unter den schlimmsten Umständen eine von Gott verliehene Fähigkeit besitzt: Er kann unterschiedliche Aussagen miteinander vergleichen, Irrtümer aufdecken und so eine bessere Vorstellung von der Wahrheit bekommen. Dieser Gedanke von der angeborenen Fähigkeit, vernünftige Überlegungen anzustellen, war damals sehr tröstlich für mich.
Später wurde ich Christlicher Wissenschafter und fand in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, der Entdeckerin und Begründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjen s’aiens), folgenden Satz: „Gott hat dem Menschen unveräußerliche Rechte verliehen, unter anderem Selbstregierung, Vernunft und Gewissen.” Kann man daraus nicht schließen, daß wir Vernunft und Gewissen auch dort erwarten können, wo sie im Augenblick nicht vorzuherrschen scheinen? In Wissenschaft und Gesundheit lesen wir auch: „Um richtig folgern zu können, sollten wir nur eine Tatsache vor Augen haben, nämlich das geistige Dasein.”
Unvernünftiges Denken ist kein Teil des geistigen Daseins, der Schöpfung Gottes. Es hat nichts mit dem wahren Selbst eines Menschen zu tun, der zu Gottes Bild geschaffen ist. Aber was können wir dann gegen unvernünftiges Verhalten tun? Was sollen wir von Menschen denken, die Flugzeuge entführen, einen Golfkrieg anzetteln oder andere Unruhen verursachen?
Einige vernünftige Überlegungen können uns da weiterhelfen. Beim Studium der Bibel werden wir zum Beispiel feststellen, daß Christus Jesus nicht einfach als unabänderliche Tatsache hinnahm, was die materiellen Sinne behaupteten. Als man ihm sagte, daß Lazarus gestorben sei, war das für ihn keine unwiderlegbare Wahrheit. Er wußte, daß der Mensch von Gott geschaffen und erhalten wird — vollkommen und unzerstörbar. Das äußere Erscheinungsbild konnte ihn nicht beirren — so überzeugend es auch schien. Seine vernünftigen Überlegungen gründeten sich auf das geistige Dasein. Nur auf dieser Basis konnte er Lazarus wieder ins Leben zurückrufen.
Als Jesus den Menschen sah, der blind geboren war, gab er keine Erklärung für diesen Zustand — er ordnete ihm keine Ursache zu —, denn im geistigen Dasein gab es keinen Grund für Blindheit; es lag keine Wahrheit darin. Das Böse ist so un-vernünftig! Es ist Irrtum, und letzten Endes kann man Irrtum nicht erklären. Man kann ihn nur durch die Wahrheit berichtigen, durch die Wahrheit, daß Gott vollkommen und der Mensch zu Seinem Bild geschaffen ist. Als die Jünger von Jesus eine Erklärung für die Blindheit des Mannes verlangten, antwortete er: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.” Jesus übersah das Böse nicht. Er sah, wo Heilung gebraucht wurde. Aber statt die Krankheit zu begründen, erkannte er, daß die Allmacht Gottes die einzige echte Ursache war, und er heilte den Mann.
Diese Einstellung können wir uns zu eigen machen, wenn uns die Probleme unserer Welt begegnen. Es ist keine Lösung, deprimiert zu sein und einfach nach einem Grund für das Leiden zu suchen. Wir müssen die Allmacht des einen Gemüts, das Gott ist, erkennen. In uns muß die Gewißheit von der unbesiegbaren Macht des Guten wachsen und die Gewißheit, daß jeder die angeborene Fähigkeit der Vernunft und des Gewissens besitzt.
Vor einigen Jahren wurde ein Großraumflugzeug entführt. Ein Passagier war schon ermordet worden, als das Flugzeug schließlich auf einem Vorfeld parkte. Die Lage stellte sich recht hoffnungslos dar. Die Drohungen der Entführer waren eindeutig.
In dieser Situation wandte ich mich im Gebet an unseren Vater-Mutter Gott, wie es sicher viele Menschen in der ganzen Welt in diesem Augenblick taten. In schwierigen Lagen hatte ich schon oft Trost und Hilfe im Gebet gefunden. Zunächst vergegenwärtigte ich mir die Allgegenwart des göttlichen Gemüts. Dann wurde mir klar, daß Furcht keine Lösung bringen konnte. Dagegen konnte das christliche Gebot, unseren Nächsten zu lieben, sichere Hilfe bringen, und bei der Anwendung dieses Gebotes mußten sogar die Entführer eingeschlossen werden. Doch diese Liebe konnte nur der wahren Schöpfung Gottes gelten: dem Menschen, geschaffen nach dem Bild des einen Gemüts.
Mir wurde klar, daß ich den Entführern vergeben mußte. Ich mußte sie von einer geistigen Grundlage aus betrachten, um in ihnen die Fähigkeit der Vernunft und des Gewissens zu erkennen. Sie zu lieben bedeutete, von ihnen vernünftiges Verhalten zu erwarten. Das wurde mir durch absolutes Vertrauen auf Gottes Allgegenwart, Allmacht und Güte möglich. In dieser göttlichen Gegenwart kann keine Geistesstörung andauern oder überhaupt auftreten. Im göttlichen Gemüt gibt es keine Strukturen, die von kurzgeschlossenen Gehirnzellen oder durcheinandergebrachten Gedankenschaltkreisen beeinträchtigt werden könnten. Die Gegenwart des Gemüts bedeutet, daß Seine Weisheit in vernünftigen Schlußfolgerungen zum Ausdruck kommt.
Mit solchen Gedanken war ich in der Lage, mein Vertrauen auf Gott zu stärken, und ich erkannte die Ohnmacht aller bösen Beweggründe. Das Böse hat keine wirkliche Ursache, keine Substanz, denn Gott ist die Ursache allen wirklichen Daseins, und Seine Güte ist die einzige echte Substanz.
Es dauerte natürlich etwas, bis ich diese Gedanken wirklich verstand und mir zu eigen machte. Aber dann war ich frei von Furcht und bereit, die Angelegenheit ganz in Gottes Hand zu legen. Ich wußte nun, daß in Wirklichkeit alles gut war.
Zwei Tage später erfuhren wir durch die Nachrichten, daß man die Entführer zur Aufgabe überredet hatte. Die Gegenwart Gottes, des göttlichen Gemüts, war bewiesen worden. Ich empfand demütige Freude dafür, daß ich mit meinem Gebet an den Bemühungen zur friedlichen Lösung teilgehabt hatte.
Unsere Gebete haben ihre Wirkung. Es ist nicht vernünftig zu glauben, daß die göttliche Macht hilflos sei oder daß es egal sei, ob man betet oder nicht.
Wahre Liebe zu unserem Nächsten erwartet von ihm, daß er das eine Gemüt reflektiert. Auf diese Weise kann man wirksam den verschiedenen Konflikten begegnen. Wir alle haben Gelegenheit, zu beten und daran zu arbeiten, daß wir die Menschen überall so sehen, wie sie in Wahrheit sind — als vollkommene Kinder Gottes. Das ist selbst dort die geistige Tatsache, wo Unvernunft und Fanatismus ein anderes Bild zu zeichnen scheinen. Im Gebet sind wir niemals allein, denn die Wahrheit ist gegenwärtig, und sie beweist sich selbst. Das ist Grund genug für zuversichtliches Hoffen.
Denn das ist der Bund,
den ich schließen will mit dem Haus Israel nach diesen Tagen,
spricht der Herr: Ich will mein Gesetz geben in ihren Sinn,
und in ihr Herz will es schreiben und will ihr Gott sein,
und sie sollen mein Volk sein.
Hebräer 8:10
