Ein „Gast“ Oder „Fremdling“ lebt vorübergehend in einem anderen Land, kehrt dann aber in sein Heimatland zurück. Manche gehen solchem Abenteuer voller Begeisterung entgegen. Anderen wiederum wird diese Erfahrung aufgezwungen, und sie empfinden die Trennung vom Gewohnten als sehr schmerzlich. Für alle können Sprache und landesübliche Gepflogenheiten zu einer gewaltigen Herausforderung werden. Irgendwann wird sich beinahe jeder Auslandsbesucher mit einer religiösen Bindung einmal fragen, wie es auch der Psalmist tat: könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande?“ Ps 137:4.
In dieser Frage hallt mehr wider als nur Ratlosigkeit in bezug auf die Gottesverehrung. Für viele schwingt darin eine Sehnsucht mit nach einem festeren Halt in der Wirklichkeit angesichts der sich ständig wandelnden menschlichen Wertvorstellungen. Es ist kein Ausruf der Verzweiflung; vielmehr deutet es auf die unverrückbaren Marksteine unserer geistigen Reise hin, die vom göttlichen Geist, der unwandelbaren Liebe, gesetzt werden. Ein solches Hinwenden zu Gott befreit uns aus einengenden Lebensumständen.
Während meines Aufenthalts in Japan waren zwei „bahnbrechende Erlebnisse“ besonders wichtig für mich. Als Angestellter einer japanischen Firma war ich dafür verantwortlich, daß ein bestimmtes Projekt termingerecht und im Rahmen der veranschlagten Kosten fertiggestellt wurde. Zu dem Mitarbeiterstab gehörten Japaner und Amerikaner, die im allgemeinen auf bewundernswerte Weise zusammenarbeiteten. Aber die Schwierigkeiten des vielschichtigen Unternehmens ließen gelegentlich auch unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinanderprallen. Und ich stand in der Mitte, verantwortlich nicht nur für das Projekt, sondern auch für einen reibungslosen Ablauf der Arbeit.
Eines späten Abends — nach einem besonders deprimierenden Arbeitstag — kamen mir eindringlich die Worte Christi Jesu in den Sinn: „Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ Mt 5:41. Das war nicht gerade der Trost, den ich suchte, zumal ich wußte, daß römische Soldaten nichtrömische Bürger zwingen konnten, ihre eine Meile weit für sie zu tragen — und hier gebot nun Jesus seinen Nachfolgern, ihren Dienst in einem solchen Fall zu verdoppeln. Es sah so aus, als hätte keiner in unserer Arbeitsgruppe die Kraft, noch eine weitere Meile zu gehen! Mir wurde jedoch klar: Wenn ich diese Meile freiwillig gehen könnte, würde ich nicht länger Sklave der Situation sein. Ich würde auf der Basis der Freiheit voranschreiten können. Die Kraft und die Bereitschaft, diese Extraanstrengung zu machen, mußten aus einer anderen Quelle als mir selber kommen, und diese Energie würde mich und die anderen nicht nur während der „zweiten Meile“ stärken, sondern auch während der ersten und aller anderen Meilen. Ich faßte den Beschluß, meine Überstunden nicht mehr widerwillig durchzustehen, sondern sie in den Dienst Gottes zu stellen. So begann ich „des Herrn Lied“ zu singen.
Ich betrachtete die Situation nicht länger als ein Aufeinanderprallen kultureller Werte und nicht einhaltbarer Termine. Jetzt befaßte ich mich mehr mit der geistigen Wirklichkeit, wie sie in der Bibel enthüllt wird: nämlich daß Gottes Kinder gar nicht die einander widerstreitenden, endlichen, fleischlichen Egos sind, die die Welt uns vor Augen hält. Unser Wesen ist geistig, nicht körperlich; unsere wahre Natur wurde zum vollkommenen Ebenbild Gottes erschaffen; und Er ist unendlicher Geist. Jesus bewies durch sein Leben und seine Heilungswerke, daß nicht der Mensch den Menschen regiert, sondern daß Gott es tut. Und das Werk der vollkommenen Liebe ist nicht irgendwelchen Launen ausgesetzt, sondern ist geordnet, entwickelt sich auf angemessene Weise und ist frei von Tyrannei, die uns das Leben schwermacht, oder von Ungerechtigkeit, die unsere Freude zerstört. Gottes müheloser Ausdruck — das, was Er geistig hervorgebracht oder erschaffen hat — ist harmonisch, ausgeglichen und beschützt.
Es genügt jedoch nicht, diese Wahrheiten einfach nur herzusagen. Das allein würde mir keinen Segen bringen. Ich mußte mein Herz der Wahrheit des geistigen Seins so weit öffnen, daß ich mich nicht mehr über die Umstände ärgerte, die mich ja letzten Endes zu aktiverem Gebet nötigten. Ich sah klarer, daß Geist in jedem von uns am Werk ist. Im weiteren Verlauf des Projekts traten immer wieder Schwierigkeiten auf, die drohten das gesamte Unternehmen zum Scheitern zu bringen, aber bei jeder Herausforderung zeigten sich intelligente, neue Lösungen. Alle Beteiligten arbeiteten mit viel Toleranz und einer Freude zusammen, die sie lange nicht mehr erlebt hatten. Und wir beendeten das Projekt vor dem Termin.
Das zweite Erlebnis ist ein Beispiel dafür, wie erfrischend unerwartete Begegnungen für Besucher in einem fremden Land sein können. Nach dem Konzert eines japanischen Chores fragte mich eine Japanerin, wie es mir gefallen habe. Ich erwiderte ihr, daß sich dieses Konzert geistlicher Musik von anderen Chören, die ich gehört hatte, durch einen ganz besonderen Reichtum abgehoben hätte. Sie stimmte mir zu und erklärte: „Das heutige Konzert war anders, weil die Sänger tatsächlich glaubten, was sie sangen. Wissen Sie, alle Mitglieder dieses Chores sind nämlich Christen.“
Sie berichtete mir von ihrer eigenen Begegnung mit dem Christentum. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sie in ihrem Schulchor mitgesungen. „Aber die einzigen Lieder, die wir singen durften“, erzählte sie, „waren Kriegslieder. Bei der allerersten Probe nach Kriegsende sagte unsere Lehrerin, eine Christin:, Heute werdet ihr zum ersten Mal wirklich singen!’ Sie verteilte Noten, nach denen wir noch nie gesungen hatten — was für eine Musik! Choräle, Kirchenlieder, Oratorien. Am Ende der Chorprobe wußte ich, daß ich eine Christin war — ich war bekehrt worden. Die Botschaft der Musik — die Wahrheit hinter den Worten — hatte diesen Wandel herbeigeführt. Meine ganze Familie war buddhistisch, und ich war die erste Christin.“ Und in dem halben Jahrhundert, das seitdem vergangen ist, hat sie nicht aufgehört, des Herrn Lied zu singen.
Ihre Ausführungen ließen mich erkennen, daß jeder Christ ein Gast oder Fremdling ist, selbst wenn er in seinem Heimatland lebt. Wie meine neue Bekannte kann ein Christ sich Idealen verschreiben, die seine Angehörigen und Freunde nicht teilen, und wird so gezwungen, tief aus der Quelle der Liebe zu schöpfen,um Probleme wie Isolation und Entfremdung zu überwinden. Aus der einmaligen Perspektive ihrer geistig bahnbrechenden Entdeckung der Christlichen Wissenschaft schreibt Mrs. Eddy: „Unser himmlischer Vater hat die Sterblichen, die nach einem Lande suchen, niemals dazu bestimmt, als enttäuschte Wanderer an den Gestaden der Zeit dahinzuziehen — durch widrige Umstände hin und her gestoßen und der Sünde, der Krankheit und dem Tode unterworfen. Die göttliche Liebe wartet darauf und bittet inständig darum, die Menschheit zu erretten — und sie erwartet mit Vollmacht und einem Willkommen, mit Gnade und Herrlichkeit die Erdenmüden und Schwerbeladenen, die den Pfad zum Himmel finden und ihn weisen.“ Botschaft für 1902, S. 11.
Unser wirkliches, geistiges Zuhause — der Himmel — wird immer konkreter für uns, bis schließlich der sterbliche Augenschein einer Trennung von Gott vollständig der Tatsache weicht, daß unser wahres Selbst als der Mensch Gottes niemals sein Zuhause verlassen und sich niemals außerhalb der Regierung der göttlichen Liebe befunden hat. Im Brief an die Hebräer wird von Menschen gesprochen, die eines Gastes oder Fremdlings haben: „[Diese] haben bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, daß sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sei ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber sehnen sie sich nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.“ Hebr 11:13–16.
Wenn wir diese himmlische Stadt zu unserem Ziel machen, fällt es uns leichter, mit Menschen unterschiedlicher Kulturen auszukommen, denn wir erkennen, daß auch wir wir — nicht nur die anderen — Voreingenommenheit aufgeben müssen. Dadurch, daß wir uns unsere himmlische Staatsbürgerschaft klarmachen, sind wir imstande, Vorurteile abzulegen. Wir können das Ziel unentwegt im Auge behalten: unsere geistige Staatsbürgerschaft im himmlischen Reich, in dem die elterliche Fürsorge Gottes alle Hindernisse ausräumt, die sich der Familieneinheit aller Söhne und Töchter Gottes entgegenstellen. Und auf dem Weg zur vollen Erkenntnis dieses Staates, helfen uns andere, die auch des Herrn Lied singen — Gäste und Fremdlinge hier bei uns und Mitbürger im Himmelreich.
Haben wir nicht alle einen Vater?
Hat uns nicht ein Gott geschaffen?
Maleachi 2:10
Fotos: Seite 26 Robert Harbison
