Kim und Julia waren die besten Freundinnen. Sie gingen gern zusammen ins Kino und schliefen abwechselnd mal bei der einen, mal bei der anderen zu Hause. Sonnabends fuhren sie manchmal mit dem Bus in die Stadt und bummelten nur so zum Spaß durch die Einkaufspassagen. Auch in der Schule hatten sie viele gemeinsame Freunde.
Eines Tages kam der Schulleiter während der Pause in den Aufenthaltsraum und gab bekannt, daß die Wahl für die Ämter in der Schülermitverwaltung anstand. Die Schüler, die sich zur Wahl stellen wollten, sollten sich jetzt melden. Nun begann ein richtiger Wahlkampf. Die Kandidaten dachten sich Slogans für ihre Wahlplakate aus, beschrifteten Buttons, die bei den Schülern sehr beliebt waren, und bereiteten ihre Wahlreden vor. Kim wollte für das Amt des Schatzmeisters kandidieren, auch wenn ihr beim Gedanken an die Rede, die sie dann vor der gesamten Schülerschaft halten mußte, ziemlich flau im Magen war.
Auf dem Heimweg im Bus erzählte sie Julia aufgeregt von ihrem Plan. Aber Julia antwortete keine Silbe. Kim hatte gehofft, sie könnte sie überrenden, ihre Wahlkampfmanagerin zu werden, aber Julia zeigte nicht das geringste Interesse. Kim wunderte sich. Was hatte Julia nur? Am nächsten Morgen fand sie es heraus. Julia bewarb sich selbst als Schatzmeister, und sie erzählte plötzlich hinter Kims Rücken eine Menge Gemeinheiten über sie. Kim fand das schrecklich, und die Gerüchte über sie waren ihr peinlich. Sie versuchte, mit Julia darüber zu sprechen, aber die schaute nur stumm über sie hinweg. Beim Mittagessen in der Schule gab Kim sich Mühe, besonders nett zu Julia zu sein. Als das auch nichts nützte, bat sie eine andere Freundin, mit Julia zu reden. Aber das machte alles nur noch schlimmer.
Kim besuchte die Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Sonntagsschullehrerin über Gott gesprochen hatte und darüber, daß Er den Menschen zu Seinem vollkommenen Bild und Gleichnis geschaffen hat. Siehe 1. Mose 1:26, 27, 31. Kim wußte, daß Gott alle Seine Kinder liebt und daß es für sie als Gottes Widerspiegelung ganz natürlich ist, ihre Freundin zu lieben. Aber solange Julia so unfreundlich war, fand Kim es schrecklich schwer, sie liebzuhaben. Dann fiel ihr ein, daß ihre Lehrerin in der Sonntagsschulklasse noch etwas anderes gesagt hatte, nämlich daß das Böse weder eine Person, ein Ort noch ein Ding ist. Kim schlug den genauen Wortlaut der Stelle in Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy nach, wo dieser Punkt erklärt wird: „Nichts ist wirklich und ewig — nichts ist Geist — außer Gott und Seiner Idee. Das Böse hat keine Wirklichkeit. Es ist weder Person, Ort noch Ding, sondern einfach eine Annahme, eine Illusion des materiellen Sinnes.” Wissenschaft und Gesundheit, S. 71.
Kim dachte lange über die Bedeutung dieser Sätze nach. Das Böse kann sich nicht an irgendeine Idee Gottes anheften, denn Gott und Seine Widerspiegelung sind durch und durch gut. Kim erkannte, daß dies die geistige Tatsache des Seins für alle Gotteskinder ist und daß das Böse daher in Wirklichkeit niemals der Antrieb für Handlungen sein kann — nicht für gute und nicht für schlechte.
Kim wollte ihrer Freundin nicht weh tun, und so überlegte sie, ob sie nicht vielleicht von der Wahl zurücktreten sollte. Aber als sie betete, konnte sie außer den Schwierigkeiten mit Julia keinen Grund finden, sich nicht um das Amt des Schatzmeisters zu bewerben. Und eines wußte sie genau: Es war bestimmt nicht richtig aufzugeben, nur um ihrer Freundin zu gefallen.
Kim sprach mit ihrer Mutter über ihre Schwierigkeiten, und die Mutter erinnerte sie an den Bibelbericht über Nehemia. Nehemia war nach Jerusalem gekommen, um die Stadtmauer wieder aufzubauen. Siehe Neh 2:1 bis 6:16. Aber Sanballat, Tobija und andere verspotteten seine Arbeit und verbreiteten viele falsche Gerüchte über das, was er sich vorgenommen hatte. Sie schmiedeten sogar Pläne, Nehemia und seine Arbeiter zu überfallen, während sie die Mauer bauten. Aber Nehemia ließ sich von den falschen Anschuldigungen und boshaften Absichten nicht beeinflussen. Er war auf der Hut und stellte „gegen sie Tag und Nacht Wachen auf zum Schutz vor ihnen”. Nehemia duldete nicht, daß irgend etwas Gottes Werk durchkreuzte. Und die Mauer wurde in zweiundfünfzig Tagen fertig.
Kim erkannte klar, daß Lügen keine Macht hatten, sie zu verletzen. Sie fürchtete nicht mehr um ihren guten Ruf, denn sie verstand nun, daß die Gerüchte weder wahr waren noch Macht besaßen. Sie wußte, daß ihre Freundin in Wirklichkeit Gottes gute und liebevolle Widerspiegelung war und daß sie daher nicht denken durfte, Julia sei ein Hindernis für das Gute. Kim dachte an all das Positive, das Julia leistete. Sie setzte sich stets für Projekte ein, die der Schule neue Geldquellen erschließen konnten, und sie hatte immer ganz tolle Ideen auf diesem Gebiet. Kim nahm sich vor, ihre Freunde — und zwar alle — wirklich selbstlos und verständnisvoll zu lieben, statt weiter wütend zu sein. Sie nahm sich Christus Jesus zum Vorbild dafür, wie man reinere Liebe zum Ausdruck bringen kann.
Kim beschloß also, in den Wahlkampf zu gehen und nett zu ihrer Freundin zu sein. Wenn jemand sie in der Schule auf die Gerüchte ansprach, ging sie nicht auf die Anschuldigungen ein. Sie sagte einfach, daß sie nicht stimmten, und machte sich wieder an ihre Arbeit.
Der Wahltag kam heran. Alle Kandidaten mußten ihre Ansprache zweimal halten, erst vor den älteren, dann vor den jüngeren Schülern. Kim fand Julias Ansprache sehr gut. Es sah ganz so aus, als ob Julia gewinnen würde, doch das fand Kim in Ordnung. Sie fand aber auch, daß sie sich recht gut gehalten hatte, ganz gleich, wie die Sache ausging.
Am Ende des Tages trafen sich alle Kandidaten in der Aula und warteten auf die Wahlergebnisse. Der neugewählte Schatzmeister wurde zuletzt bekanntgegeben — und hieß Kim! Kurze Zeit später hörten die Gerüchte auf. Und obwohl Kim gewonnen hatte, fanden die beiden Freundinnen bald wieder zu einem freundschaftlichen Umgangston zurück. Kim hatte durch ihre Gebete ein tieferes Verständnis von wahrer Freundschaft gewonnen, und sie hatte gelernt, wie wichtig es ist, sich nicht von Lügen aus der Bahn werfen zu lassen, die das Gute, das dem Menschen innewohnt, verdunkeln wollen. Die Worte Christi Jesu kamen ihr in den Sinn: „So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.” Mt 5:16. Sie wußte nun, daß nichts das Gotteskind daran hindern kann, seine „guten Werke” leuchten zu lassen.