Der Präsidentschaftskandidat Tritt vor die Wähler und verkündet, er gedenke die Wahl mit Sanftmut und Rücksicht zu gewinnen und erteile dem Ruf nach einem „starken Mann” eine Absage. Der Aufsichtsratsvorsitzende eines multinationalen Konzerns erklärt vor Wirtschaftskorrespondenten, die Zeit rücksichtslosen Wettbewerbs sei vorbei und es gelte, Werte wie Fairneß und Kooperation als Unternehmensziele zu definieren.
Mancher mag diese Verhaltensweisen als naiv oder unangemessen bezeichnen, und doch gibt es deutliche Hinweise darauf, daß sich ein Wandel zu besseren Beziehungen zwischen den Menschen und hin zu neuen politischen und wirtschaftlichen Strukturen vollzieht. Sie erfordern eine bewußte und mitverantwortliche Beteiligung des einzelnen. Der respektvolle Umgang miteinander wird so die Ellenbogenmentalität ablösen.
Warum kann Sanftmut im täglichen Miteinander zu einer Kraft werden, die uns zuverlässig zu Harmonie und erfolgreichen Lösungen führt? Wie ist es möglich, einerseits sanftmütig zu handeln und andererseits sogar angesichts massiver gedanklicher und auch physischer Angriffe in Sanftmut geschützt zu sein?
Man mag einwenden, daß durch eine sanftmütige Haltung die Gefahr besteht, Opfer des egoistischen Durchsetzungswillens anderer zu werden. Ein sanftmütiges Bewußtsein zu haben ist jedoch nicht mit Wehrlosigkeit gleichzusetzen.
Das indogermanische Wort „sem”, aus dem sich „sanft” entwickelt hat, heißt so viel wie „eins” und „in eins zusammen”. Wer sich eins mit Gott fühlt, ja, wer diese Einheit als Gewißheit versteht, kann sich geborgen und geschützt wissen. Er wird erfahren, daß sein Bewußtsein von der Einheit mit Gott durch Sanftmut Schutz bietet. Gottes Willen zu tun unterstellt uns Seiner Allmacht, die wir als Geborgenheit und Sicherheit erleben können.
Christus Jesus hat der Welt durch die Bergpredigt eine klare Anleitung für persönliches, nationales und globales Zusammenleben gegeben. „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.” Lk 6:20. Diese Verheißung stellt Sanftmut als wesentliche Gedankenhaltung der persönlichen Macht voran. Herrschaft durch Sanftmut schließt Rücksichtslosigkeit und materielle Gewalt aus. Sie bedeutet vielmehr, daß sich der Herrschende, egal, ob er sich als Politiker oder Ökonom oder anders für das Gemeinwohl engagiert, der Allmacht Gottes bewußt ist und sich demütig in Seinen Dienst stellt. Betrachtet man Christi Jesu Wirken, so zeigt er durch sein Vorbild der Menschheit eine neue Dimension der Liebe. Auf perfekte Weise verkörperte er wahre Herrschaft, das Bewußtsein der Allmacht der Liebe. Seine Sanftmut war durch das Wissen getragen, in jedem Moment Gottes Wesen auszudrücken und es so zu verherrlichen. Daher konnte er selbst schwierigste Situationen souverän bestehen und Gefahren wirkungsvoll begegnen.
Als er in Nazareth predigte, zog er sich den Zorn der Einheimischen zu. Ganz offensichtlich war die Menge, einige Bibelübersetzungen sprechen von Mob, zur Gewalt bereit. Der Evangelist Lukas schreibt: „Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an einen Abhang des Berges, auf dem die Stadt gebaut war, um ihn hinabzustoßen. Aber er ging mitten durch sie hinweg.” Lk 4:29, 30. Christus Jesus beantwortete Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern seine Überzeugung von der Wahrheit, für die er sich einsetzte, bot ihm Schutz und erhielt ihn unversehrt. Das Bewußtsein seiner Einheit mit Gott beherrschte die Lage.
In vielen Ländern wird der Ruf nach Menschen, die auch in Politik und Wirtschaft der Botschaft der Bergpredigt zu folgen bereit sind, immer lauter. In Meinungsumfragen in Deutschland über wünschenswerte Eigenschaften von Politikern treten Begriffe wie „Härte” und „Durchsetzungswillen” immer mehr zurück. Statt dessen werden „Einsicht” und „Ausgleich” erwartet.
Christliche und moralisch hochstehende Qualitäten auszudrücken befreit uns von Verhaltensmustern, die maßgeblich durch den menschlichen Willen geprägt sind. Aus einem sanftmütigen Bewußtseinszustand erkennen wir die richtigen Ideen und trennen sie von falschen Vorstellungen. Diese Wahrnehmung öffnet das Bewußtsein auch für die geeigneten Schritte. So können wir menschliche Widerstände gegen Pläne und Vorhaben überwinden, die den Menschen nützen sollen. Wer die wahre Idee wirken läßt und weiß, daß sie immer auch ihren Ausdruck finden wird, gewinnt Handlungsspielräume, die einer sterblichen Gesinnung verschlossen bleiben.
Die auf Gottes Allmacht bauende Sanftmut ist wahre Stärke. Sanftmut ohne diese Überzeugung wäre Schwäche. Jeder kann sanftmütig sein, unabhängig davon, welche menschlichen Charaktereigenschaften ihm zugeschrieben werden. Es ist der Christus, der göttliche Einfluß, der in und durch uns wirkt und uns hilfreiche Eigenschaften wie Offenheit, Flexibilität, Gemeinsinn und Kreativität ausdrücken läßt. Dieser göttliche Einfluß, den Christus Jesus der Welt so vollkommen präsentierte, wirkt heute wie eh und je. Er wirkt, auch wenn bisweilen martialische Töne laut hörbar sind. Unsere Gebete, die die aus der Einheit mit Gott erwachsende Stärke bekräftigen, tragen dazu bei, Menschen und Nationen von dem Gebrauch physischer und mentaler Gewalt zu befreien.
Jeder von uns kann einen festen Standpunkt einnehmen, durch den wir die mächtigen Gesetze der Liebe akzeptieren und nutzen können. Voller Autorität können wir auf der Überlegenheit des göttlichen Gesetzes bestehen, das verwerfliche Machenschaften aufdeckt und es uns ermöglicht, ihnen zu widerstehen und sie zu überwinden.
In ihrem Artikel „Ausblick” zeigt Mary Baker Eddy, wie sich Sanftmut kundtut: „Sanftmut fördert unsterbliche Eigenschaften einzig dadurch, daß sie den Staub hinwegnimmt, der diese trübt. Güte offenbart einen neuen Ausblick und ein neues Selbst, scheinbar in Schatten gehüllt, nun aber ans Licht gebracht in der Entfaltung des vorwärts eilenden Gedankens, wodurch wir die Macht der Wahrheit und Liebe, die Kranken zu heilen, erkennen.” Vermischte Schriften, S. 1.
Mary Baker Eddy ist in ihrem Leben viel Widerstand begegnet. Sie hat sich, oft gegen den Widerspruch der ihr Nahestehenden, durchgesetzt und beispielhaft gezeigt, daß sie ihre Einheit mit Gott verstanden hat. Das Gebet, das sie befähigt hat, Gottes Willen zu tun, gab ihr Rückhalt und Mut. Wenn sie aufgrund ihrer Gebete zu Entscheidungen gelangte, blieb sie fest und unbeirrt. Für ihre Zeitgenossen wurde oft erst viel später die Richtigkeit einer getroffenen Entscheidung klar. So konnte sie aufgrund ihrer Erfahrungen im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft erklären: „Sanftmut und Nächstenliebe haben göttliche Vollmacht.” Wissenschaft und Gesundheit, S. 270.
Wenn wir so beten, werden wir unseren Pflichten und Aufgaben als verantwortlich Handelnde besser gerecht und können unsere Mitmenschen für Ziele gewinnen, die sanftmütig und erfolgreich erreicht werden und die einem erbaulichen Miteinander dienen. Die Stärke, auf die wir dabei bauen, hat eine Qualität, die dauerhaft ist und zum Segen wird. In den Psalmen wird eine solche Haltung besungen: „Zieh einher für die Wahrheit in Sanftmut und Gerechtigkeit. So wird deine rechte Hand Wunder vollbringen.” Ps 45:5.
Lassen wir keine Zeit verstreichen, Sanftmut und Stärke jetzt zu pflegen. Sie drücken unser wahres Selbst aus, und ihre Betätigung befriedet und segnet die Welt.