Vor einiger Zeit nahm eine protestantische Geistliche an einer Gesprächsrunde teil, in deren Mittelpunkt das Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy stand. Danach zeigte sie Interesse, sich noch weiter über das Thema zu unterhalten. Diese Absolventin eines Priesterseminars und ordinierte Pastorin ihrer Kirche war bis zu ihrer Heirat ohne besondere Bindung an eine bestimmte Religion aufgewachsen. Als junges Mädchen hatte sie jedoch einmal auf Einladung ihrer Lieblingslehrerin in der Schule für kurze Zeit eine Christian Science Sonntagsschule besucht. Angenehme Erinnerungen daran weckten Jahre später ihr Interesse und veranlassten sie, zu der Veranstaltung über Wissenschaft und Gesundheit zu kommen. Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte eines Gesprächs über das Thema Gebet wiedergegeben, das diese Pastorin mit einem freien Mitarbeiter der Redaktion führte.
Christus Jesus forderte uns auf: „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten" (Mt 6:6). Könnten Sie unseren Lesern erzählen, wie Sie an das Thema Gebet herangehen, und zwar sowohl als Christin wie als Geistliche?
Vor zehn oder zwölf Jahren begann ich mich gezielt mit dem Stellenwert von Gebet in meinem Leben auseinanderzusetzen. Damals hatte ich ein starkes Bedürfnis nach Ruhe und Stille und merkte, dass es notwendig war, Zeit dafür einzuplanen. Mir wurde klar, dass ich in meiner Seelsorgetätigkeit ständig arbeitete und für andere da war, doch dass ich mir nicht die Zeit nahm, stille zu werden. So fing ich an, jeden Tag eine „Zeit der Besinnung" einzurichten. Außerdem nahm ich mir einmal im Monat einen Tag frei, um allein wegzufahren — manchmal in ein Ferienhaus, das mir zur Verfügung steht. Und einmal im Jahr zog ich mich für fünf bis sieben Tage in ein Refugium zurück, wo ich Ruhe und Zeit zur Besinnung fand.
Rückblickend ist mir heute klar, wie wichtig es ist, den inneren Raum zu schaffen, den inneren Frieden herzustellen, um beten und Zwiesprache mit Gott halten zu können. Ich nehme mir immer noch Zeit zum Nachdenken, und dazu gehört bei mir auch — was Sie vielleicht erstaunlich finden werden — die Beschäftigung mit der christlich-wissenschaftlichen Wochenlektion. Ich stelle fest, dass mich die Gedanken und Ideen aus der Lektion durch den Tag begleiten und dass ich auf sie zurückgreifen kann. Sie sind meine „Insel des Gebets". Sie machen mir bewusst, wie Gott sich mir mitteilt. Was das Gebet in meinem Leben angeht, so hat sich diese regelmäßige Zeit der Besinnung als sehr hilfreich erwiesen.
Das Vaterunser ist der ganzen Christenheit wohl vertraut und wie bei vielem, was uns sehr vertraut ist, kann im Laufe der Zeit der Eindruck entstehen, dass es an Inspiration einbüßt und keine aktuelle Bedeutung mehr für uns hat. Können Sie etwas dazu sagen, wie das Gebet des Herrn so gebetet werden kann, dass es immer wieder Erneuerung bringt?
Ja, Sie haben wohl recht, es ist möglich, dass dieses Gebet an Bedeutung verlieren kann. Wenn ich in der Kirche manchmal höre, wie es gemeinsam gebetet wird (sehr schnell in manchen Kirchen), frage ich mich, wie viele der Anwesenden wirklich innehalten, um über die Bedeutung der Worte nachzudenken. Innehalten und tief über das Vaterunser nachdenken das ist die Antwort auf die Frage, Wie wir es mit neuer Inspiration durchdringen können. Manchmal reicht es schon aus, über einen bestimmten Satz oder auch nur ein einzelnes Wort in dem Gebet nachzudenken.
Die geistige Auslegung von Mary Baker Eddy ist für mich wirklich inspirierend. Besonders ihre Worte, die auf „Dein Reich komme" folgen —„Dein Reich ist gekommen; Du bist immergegenwärtig" (Wissenschaft und Gesundheit, S. 16). Ich habe es mir angewöhnt, dies oft während des Tages zu beten, um mir immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass Gott bereits alles getan hat, was in Bezug auf Führung, Heilung und Liebe für uns getan werden kann. Auch Leute, die ich seelsorgerisch betreue, tun dies. Ich mache Menschen, die bei mir Rat oder Hilfe suchen, mit dieser Auslegung vertraut. Ich fordere sie auf, sich eine Zeile aus dem Vaterunser auszusuchen, die sie besonders anspricht, dann während des Tages darüber nachzudenken und die Einsichten, die sie dabei gewinnen, als ihr ganz persönliches Gebet zu benutzen.
Das Christentum lehrt uns, dass es wichtig ist, so zu beten, wie Jesus es tat: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!" (Lk 22:42). Viele finden es schwierig, diese Worte zu beten und wirklich ernst zu meinen. Was würden Sie diesen Menschen sagen?
Ja, ich glaube auch, dass viele Menschen es schwierig finden, diese Worte zu beten, und ich vermute, das kommt daher, weil sie falsche Vorstellungen vom Wesen Gottes haben. Mir ist aufgefallen, dass manche diese Worte in einem letzten Aufschrei der Verzweiflung beten, wenn ihre Gebete scheinbar unerhört bleiben und sie nicht wissen, was sie noch tun sollen. Ich glaube, dass die Leute sich in solchen Augenblicken in eine Glaubenskrise gestürzt sehen, weil sie nicht wissen, wie sie mit einem Gott umgehen sollen, der — wie meinen — Leiden zulässt oder ihnen und den Menschen, die sie lieben, sogar Leiden schickt.
Meine Erfahrung ist, dass diejenigen, mit denen ich über Gebet spreche, nach einem neuen Verständnis von Gott und Seinem Willen hungern und einem solchen Verständnis sehr aufgeschlossen gegenüberstehen. Ich sage ihnen dann immer, dass Gott Liebe ist und dass es nicht Gottes Wille ist, dass sie in irgendeiner Weise leiden. Ich weiß, dass die Christlichen Wissenchafter Gottes Allmacht und Güte als Grundlage allen wahren Gebets betrachten, und ich sehe das genauso. Ich versuche das auch anderen nahezubringen, die gewohnt waren, die Gottheit als einen zürnenden Gott zu sehen. Gott ist ein guter Gott und Er schickt weder Böses noch Leiden. Wenn wir das verstehen, ist es nicht schwer zu beten, dass Gottes Wille geschehen möge.
Im Jakobusbrief befinden einige bemerkenswerte Aussagen über die Macht des Gebets. Dort heißt es ganz eindeutig: „Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen" und „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist" (Jak 5:15, 16). Jakobus fordert uns inständig auf, füreinander um Heilung zu beten. Befürworten Sie geistiges Heilen, und wenn ja, wie fördern Sie es?
Ich unterstütze es als Teil unserer christlichen Tradition. Ich weise die Menschen oft auf das Heilen hin und erzähle ihnen, dass die Kirche das Heilen bis etwa zum 3. oder 4. Jahrhundert mit als ihre Aufgabe ansah. Interessanterweise verlor das Heilen seinen Stellenwert in der Kirche etwa zur gleichen Zeit, als die Kirche unter Konstantin im Jahre 325 zur Staatskirche wurde. Viele Menschen haben heutzutage ein echtes Interesse am geistigen Heilen. Die Medizin lässt trotz all ihrer Erfolge viele tiefgehende Fragen offen. Meiner Ansicht nach macht es die Krise im Gesundheitswesen der Vereinigten Staaten notwendig, dass wir unsere Vorstellungen in Bezug auf das Heilen überprüfen. Ich befürworte das geistige Heilen. Ich rege die Menschen dazu an, ihr Gebet mit den ihnen bekannten Wahrheiten über Gott zu beginnen und sich besonders zu vergegenwärtigen, dass Gott allmächtig ist, wie aus verschiedenen Stellen der Heiligen Schrift hervorgeht. Oft frage ich sie: „Welche Bibelstelle fällt Ihnen gerade jetzt ein, die von Gottes Macht, Gottes Liebe oder Gottes Wahrheit spricht?" Ihnen fällt immer eine ein! Ich fordere sie auf, Über diese Stelle nachzudenken, sie in ihr Denken aufzunehmen und mit diesen Wahrheitsgedanken zu beten.
Die Leute reagieren positiv und dankbar auf diesen Ansatz; denn oft genug steht in ihrem Denken das Problem an oberster Stelle und nicht Gott, auf den die Gedanken wirklich gerichtet sein sollten. Durch diese geistige Disziplin sind sie in der Lage, furchtsames Denken durch Wahrheiten zu ersetzen, die sie bereits über Gott kennen. Ich fordere die Menschen auch nachdrücklich auf, aufmerksam auf Gedanken oder Botschaften von Gott zu lauschen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Krisenzeiten auch Zeiten geistigen Wachstums sein können, oft begleitet von wichtigen Erkenntnissen.
Haben Sie im eigenen Leben Auswirkungen des „ernstlichen” Gebets erfahren, über das wir gesprochen haben?
Ja. Oftmals — eigentlich fast mein ganzes Leben lang — haben christliche Kollegen, wenn ich sie darum gebeten habe, für mich um Kraft, Trost, Mut und Heilung gebetet. Und ich habe die Liebe und die Unterstützung anderer gespürt, wenn meine Angehörigen Schweres durchmachten. Gebet hat mir am meisten beim Umgang mit der Furcht geholfen. Ich empfinde zwar manchmal trotzdem noch Furcht, sie ist aber kein fester Bestandteil meines Lebens mehr. Mir wurde vor einiger Zeit bewusst, dass ich eigentlich von Kindheit an mit einem gewissen Maß an Angst gelebt hatte, die mir anerzogen worden war. Durch Gebet, durch die Gemeinschaft mit einem Gott, der göttliche Liebe ist, bin ich davon frei geworden — es ist kein normaler Teil meines Lebens mehr. Ich habe auch körperliche Heilungen von Allergien und Herzrhythmusstörungen erlebt, unter denen ich viele Jahre gelitten hatte.
Im Neuen Testament werden wir aufgefordert, „ohne Unterlaß" zu beten (1. Thess 5:17). Wie macht man das?
Unser Bewusstsein ist ständig voller Gedanken — Gedanken aller Art. Da gibt es schöne Gedanken, Schuldgefühle, weil wir in der Vergangenheit versagt haben, Gedanken darüber, was wir tun müssen, um eines Tages ein besseres Leben zu führen. Für mich bedeutet Beten ohne Unterlass daher, anzufangen negative Gedanken durch Wahrheiten über Gott und über mich als Geschöpf Gottes zu ersetzen. Wenn ich mich bemühe, diese Wahrheitsgedanken ständig im Bewusstsein zu haben, wird daraus Beten ohne Unterlass. Ich hörte einmal von einem Schweizer Psychotherapeuten, der sagte, alle Frauen trügen einen „Dämon" auf der Schulter herum, der ihnen Lügen zuflüstere und ihnen einrede, sie taugten nichts und würden es nie zu etwas bringen. Ich glaube, wir müssen diesen Dämon zum Schweigen bringen. Wir müssen die Lügen als solche erkennen und sie eine nach der anderen umwandeln und uns dann — mit Gottes Hilfe — ganz von ihnen befreien.
Was sollte Ihrer Meinung nach der Beweggrund für Gebet sein?
Uns Gott zu öffnen. Uns bereit zu machen für alles, was Gott schon für uns getan hat, uns schon geschenkt hat. Uns mit Gott in Einklang zu bringen. Im presbyterianischen Westminster Katechismus wird, soweit ich mich erinnere, die Frage gestellt (ich gebe es hier nur dem Sinn nach wieder): „Was ist der Lebenszweck des Menschen?" Und die Antwort lautet: „Der einzige Lebenszweck des Menschen ist, Gott in Ewigkeit zu loben und zu preisen." Mir gefällt diese Antwort. Dass wir Widerspiegelungen der Liebe Gottes sind, ist dasselbe, nur auf andere Art ausgedrückt. Gebet hilft uns, unserem Lebenszweck gerecht zu werden.
Als Jesus einmal einen Kranken heilte, den seine Jünger nicht hatten heilen können, sagte er, ihr Unglaube habe die Heilung verhindert. Seine Aussage gipfelte in dem Satz: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten und Fasten" (Mk 9:29). Was glauben Sie, meinte Jesus mit „Beten und Fasten"?
Ich weiß, dass man in biblischen Zeiten fastete, und habe selbst auch einmal eine Zeitlang gefastet. Es hat mir zwar geholfen, mich auf den Betreffenden zu konzentrieren, für den ich damals betete, aber wenn ich heute zurückschaue, erkenne ich, dass ich mich mehr auf die Person und das Problem konzentrierte als auf Gott und Seine Wahrheit. So sehe ich denn die Grenzen meines damaligen Tuns. Heute glaube ich, dass es beim Fasten mehr um ein Stillewerden der Sinne geht, darum, einen friedevollen Ort der Wahrheit zu finden und die Sinne im Zaum zu halten. Heute bedeutet Fasten für mich, dass ich mich über das erhebe, was die Sinne mir sagen.
Könnten Sie etwas dazu sagen, welche Bedeutung die Macht des Gebets Ihrer Meinung nach in der Zukunft haben wird?
Es wird sehr wichtig werden. Der heilige Augustin schrieb etwas, was mir sehr gefällt: „Unsere Herzen sind ruhelos, o Gott, bis sie in dir Ruhe finden." Ich glaube, dass das rastlose Suchen und Sehnen, das sich heute überall zeigt, niregendwo anders hinführen kann als zum Gebet. Der innere Hunger wird uns schließlich zu der Quelle bringen, die diesen Hunger stillt. Diese Quelle ist Gott. Der letzte Vers des 23. Psalms gibt uns die Zusage, dass die Liebe Gottes uns überallhin folgt. Wenn Gott uns immer folgt und wir uns nach Ihm sehnen, werden Gott und Mensch im Gebet zueinander finden. Dann werden wir erkennen, was schon jetzt besteht — das Reich Gottes. Es ist etwas sehr Schönes, mit Menschen zu sprechen, die sagen, sie wissen nicht, wonach sie suchen, und ihnen dann zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass die Antwort in einem Leben inspirierten Gebets liegt. Das ist das tiefere Verständnis, nach dem so viele Menschen streben. Der Weckruf ist erklungen und die Christen sind dabei, sich der Macht des Gebets bewusst zu werden. Es ist wunderbar, an dieser aufregenden Entwicklung teilzuhaben.
