Der Gedanke an Selbstmord kam urplötzlich und scheinbar von allen Seiten. Er kam allerdings unter anderem Namen. (Beim Wort Selbstmord wäre ich gleich wach geworden.) Er schien Trost und Geborgenheit zu versprechen. Doch etwas hielt mich zurück.
Es geschah eines späten Abends, einige Wochen nach dem Tod meines Mannes. Ich fuhr allein mit dem Wagen nach Hause und kam zu einer Brücke, an der gerade gebaut wurde. Mir fiel auf, dass das Geländer fehlte und zwei Absperrungen verstellt worden waren. „Aber da könnte doch jemand über den Brückenrand hinausfahren und sich ins Wasser stürzen", sagte ich laut. Im selben Augenblick verspürte ich das überwältigende Verlangen, genau das zu tun. Der Gedanke „Dann werden wir wieder zusammen sein" war sehr verlockend. Wie schön und tröstlich, wie schnell und einfach.
Irgendetwas hielt mich davon ab, diesem Drang zu folgen, aber die Gedanken beunruhigten mich doch sehr. Ja, ich war schockiert! Ich war so durcheinander, dass ich wusste, ich würde nicht einschlafen können, ohne vorher eine Antwort gefunden zu haben. Zwei Fragen beschäftigten mich am meisten: Was war über mich gekommen, dass ich einen solchen Schritt tun wollte? Und was hatte mich davon zurückgehalten?
Was war dieses „Etwas", das mich bewahrt hatte? Die Bibel nennt dieses „Etwas" Gottes „stilles, sanftes Sausen". Als der Prophet Elia nicht länger leben wollte, hörte er diese Stimme und fühlte Gottes tröstende, beschützende und stärkende Fürsorge. Siehe 1. Kön, Kap. 19.
Haben Sie nicht auch schon irgendwann und irgendwie einmal dieses „stille, sanfte Sausen" vernommen? Es ist ein Zeichen von Gottes Gegenwart und Fürsorge. Wenn wir empfänglich dafür sind, können wir es hören, selbst wenn wir uns nicht für besonders „religiös" halten.
Hagar, eine ägyptische Frau aus der Bibel, erlebte das. Die Ägypter glaubten nicht an den einen Gott. Doch als Hagar und ihr Sohn Ismael den sicheren Tod vor Augen hatten (sie irrten in der Wüste umher, Essen und Wasser waren aufgebraucht), „erhörte Gott die Stimme des Knaben. Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben, wo er ist." 1. Mose 21:17 [nach der King-James-Bibel].
„Wo er ist." Ist das nicht wunderbar? Ein Gott, der immer für Seine Kinder sorgt, wird doch sicher auch unsere Bedürfnisse da stillen, wo wir sind, nicht wahr? Da, wo unsere Not ist (mag sie noch so groß sein), und an dem Punkt, den wir in unserem Verständnis von Gott (mag es noch so gering sein) erreicht haben. Hagar tat ihre Augen auf und sah einen Wasserbrunnen vor sich. Er war schon immer dort gewesen, aber Selbstmitleid, Kummer und Furcht hatten sie so mit Blindheit geschlagen, dass sie ihn nicht wahrgenommen hatte.
Wenn man diese drei Fälle menschlich betrachtet — Elias Wunsch zu sterben, mein eigenes Verlangen nach dem Tod und Hagars Furcht vor ihm —, könnte man die Tatsache, dass der Tod abgewendet wurde, dem mächtigen „Selbsterhaltungstrieb" aller Lebewesen zuschreiben. Doch in jedem einzelnen Fall hatten die Betroffenen die unwiderstehliche Berührung der Liebe gefühlt, die ihr Denken erhob. Elia wurde so inspiriert, dass er nicht mehr bloß am Leben bleiben wollte; sein Leben bekam eine neue Kraft und einen neuen Inhalt. Hagar und Ismael schlugen sich nicht nur irgendwie durch, sondern Gott fügte es, dass es ihnen wirklich gut ging. Als mein eigener Wunsch zu sterben so natürlich und richtig schien, wurde auch mir sofort gezeigt, dass ein solches Verlangen gar nicht aus mir selbst kam und nicht zu mir gehörte. Diese Überzeugung kam nicht in Worten, aber ich fühlte so nachdrücklich die Reinheit und Kraft der großen Liebe Gottes, dass ich Ihm, der das Leben selbst ist, folgte.
Beim Studium der Schriften Mary Baker Eddys lernte ich: „Leben ist die Spontaneität der Liebe ... ", und in dieser Nacht erkannte ich bis zu einem gewissen Grad, dass Leben und Liebe nicht ohne einander bestehen können. [Der vollständige Satz lautet: „Leben ist die Spontaneität der Liebe, untrennbar von der Liebe, und Leben ist das Lamm„ das erwürgt ist von Anfang der Welt' — das nämlich, was tot war, und ist wieder lebendig geworden, ... verloren, und ist wiedergefunden', denn Leben ist der Christus, und Christus heilt, wie ehedem, die Kranken, errettet die Sünder und zerstört den letzten Feind, den Tod." Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 185.] Wie unvorstellbar, dass Liebe zum Tod führen könnte! Liebe ruft Leben hervor und kennt nur Leben — diese Tatsache, auch wenn wir nur einen Schimmer davon erlangen, schließt den Tod aus.
Gottes allumfassende Verheißung an alle Seine Kinder lautet: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. ... Sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß." Jer 31:33, 34. Im Moment meiner Entscheidung kam mir diese Bibelstelle allerdings nicht in den Sinn, aber ich fühlte ganz stark die Zartheit und Macht des kostbaren Bandes, das Gott mit Seiner Idee, dem Menschen, verbindet. Heute ist mir klar, warum das so war: weil es ja die eigentliche Grundlage meines Seins ist. Auch Ihres Seins und jedermanns. Daher ist es unser größtes, reinstes und natürlichstes Verlangen, dem Leben in Gedanken, Worten und Taten zu dienen.
Und kommen wir nicht so zu einem besseren Verständnis von Gott — nämlich wenn wir die Wärme Seiner Liebe und die Kraft Seiner Stärke so natürlich und sicher fühlen, dass alles, was die Regierung Gottes in unserem Leben leugnet oder anzweifelt, einfach weichen muss? Dies ist das Wirken des Christus, des kostbaren, immer gegenwärtigen Einflusses Gottes im menschlichen Bewusstsein. Der Christus wirkt unaufhörlich, um Gedanken und Taten in Einklang mit Ihm, mit Leben, Wahrheit und Liebe, zu bringen. Im Leben Christi Jesu wurde dieses Wirken voll sichtbar.
Ich dachte an die vergangenen Wochen zurück. Wie sehr hatte mich Gott gestärkt, geführt, getröstet; wie geborgen waren meine Kinder und ich nach dem Tod meines Mannes gewesen! Gottes Liebe erhob mich über Selbstmitleid und Trauer, ersetzte meine Tränen durch Dankbarkeit, mein Selbstmitleid durch Zielstrebigkeit. Täglich hatte ich die Beweise Seiner Güte erfahren. Und ich war mir ganz sicher, dass auch mein lieber Mann die große Liebe Gottes erlebte.
Was war also über mich gekommen, dass ich sterben wollte? Ich dachte daran, was ich in Christian Science über die Natur des Bösen gelernt hatte. Obwohl das Böse so wirklich erscheint (und ist das physische Bild nicht immer so verlockend oder erschreckend, dass es uns einredet, wir könnten dem Bösen nicht widerstehen?), ist es dennoch nur eine Lüge, die Gottes Allmacht leugnet. Trügerisch und tückisch ist das Böse und so besteht seine Strategie darin, sich als unser eigenes Denken auszugeben und uns glauben zu machen, seine Suggestionen seien unsere eigenen Gedanken. Seine Täuschung besteht darin, dass es behauptet und verspricht, etwas Gutes zu sein — und es auch zu sein scheint.
Wurde ich nicht auch an dem Abend so in Versuchung geführt — durch das Versprechen von Trost, süßer Freude und einem Wiedersehen? Sollte ich nicht dazu verlockt werden, dem Bösen (dem Tod) im Namen des Guten (Gottes, des Lebens) zu dienen? Ich war mir so völlig sicher gewesen, dass Leben ewig ist — kein Wunder also, wenn das Böse mit der hinterlistigen Einflüsterung kam: „Was soll denn dabei sein? In Wirklichkeit stirbst du ja gar nicht." Aber die Bibel sagt: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod." 1. Kor 15:26. Feind, nicht Freund; vernichtet, nicht sich ihm ergeben. Bevor ich in dieser Nacht mein Licht auslöschte, schlug ich die Bibel auf, und mein Blick fiel auf einen Vers aus den Psalmen: „Denn du hast meine Seele vom Tode errettet, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten." Ps 116:8.
Nie wieder ist eine Versuchung dieser Art an mich herangetreten.
Jede Stufe unseres geistigen Fortschritts muss dadurch demonstriert werden, dass wir leben, was wir von Gott verstehen. Da kann man keine Abkürzungen benutzen, keine Stufe überspringen; aber wir alle können Gottes „stilles, sanftes Sausen" hören, das uns ein Gefühl der Geborgenheit in Seiner ewigen Liebe und Seinem stärkenden Gesetz gibt. Schritt für Schritt können wir beweisen, dass die Gegenwart Gottes fühlbar und nichts Abstraktes ist, dass unsere Liebe zu Ihm praktischer Natur ist, nicht nur emotional, und dass unser Vertrauen zu Ihm wissenschaftlich ist und nichts mit Aberglauben zu tun hat.
Wenn wir uns Gott zuwenden und Seiner Führung folgen, hält Seine große Liebe uns davon ab, uns selbst oder anderen Schaden zuzufügen — und führt uns zu wahrer Lebensfreude.
