AIs unsere Tochter Julia in der ersten Klasse war, hatten wir ein Abkommen mit ihr, dass sie, wenn sie bestimmte Notwendigkeiten innerhalb einer festgesetzten Zeit erledigt hatte, abends in ihrem Bett so lange lesen dürfte, wie sie wollte. Julia hatte diese Möglichkeit lange Zeit sehr maßvoll genutzt, aber dann aus irgendeinem Grund ganz aufgehört zu lesen. Und so waren wir, als sie nach ca. einem halben Jahr wieder damit anfing, so froh, dass wir gern auch mal ein Auge zudrückten und es mit der festgesetzten Zeit nicht mehr so genau nahmen. Aber Julia nutzte dieses Wohlwollen aus, gewöhnte sich daran, dass das Regulativ fehlte, bekam ein immer größeres Schlafdefizit und wurde aufsässig, wenn wir versuchten gegenzusteuern.
Eines Abends war es so weit: Sie hatte die Bedingungen nicht erfüllt, wollte aber aufs Lesen nicht verzichten, und ich wusste, dass ich es ihr nicht länger erlauben durfte. Sie rebellierte und ich musste den Weg zurück zur schützenden Regel durchsetzten. Aber wie? Ich spürte, dass jedes weitere Wort eine Eskalation zur Folge gehabt hätte, die uns vor noch größere Schwierigkeiten stellen würde, und wusste mir keinen Rat.
Da kamen mir Gedanken zu Hilfe, die ich durch Christian Science kennen gelernt hatte: „Dieses Kind ist gut, und es gibt nur Liebe." Ich meinte damit nicht, dass Julia ein liebes, wohlerzogenes Kind wäre, weil wir, ihre Eltern, sie so toll erzogen hätten. Nein, ich meinte damit, dass dieses Kind ein Kind Gottes* war und deshalb nur gut sein konnte, genau wie ich ein Kind Gottes und gut war. Also waren Unstimmigkeiten zwischen uns unnatürlich.
Dieser Gedanke füllte mich vollkommen aus. Ich sagte nichts mehr und tat nichts, als Julia in die Augen zu sehen und dabei mit all meinen Fasern diesen Gedanken zu empfinden. Julia, die in höchster Kampfbereitschaft gewesen war, war von dieser Wende völlig gefangen. Auch sie sagte kein Wort mehr, aber ihre Augen spiegelten ihre Gefühle wider: Erstaunen, Ratlosigkeit, wieder aufflammende Wut, ja Hass und einkehrende Ruhe, in immer wechselnder Folge. Schließlich begann ich sie vorsichtig zu streicheln. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich so an ihrem Bett blieb; es mag eine Stunde gewesen sein. Manchmal schloss sie für eine Weile ihre Augen, und ich dachte schon, sie würde so einschlafen.
Aber es kam anders, und das empfand ich als ein besonderes Geschenk Gottes: Plötzlich setzte sich Julia noch einmal auf, sah mich ruhig an und sagte mit weicher Stimme: „Mama, ich geh noch mal aufs Klo und dann schlaf ich."
Das war eine ganz bewusste Aussöhnung, denn Julia hatte zu der Zeit die Angewohnheit manchmal, wenn ein Tag aus irgendeinem Grund mit Spannungen geendet hatte, ins Bett zu machen. Aber sie hatte die Liebe, die uns umgab, gespürt, und da war kein Platz mehr für Unstimmigkeiten.
Dieses Erlebnis hat noch lange in uns beiden nachgewirkt und unsere Achtung voreinander gestärkt.
* Im Alten Testament wird gesagt, dass Gott den Menschen zu „Seinem Bild und Gleichnis" schuf. Jesus drückte diese enge Verbindung zwischen Gott und dem Menschen durch die Bezeichnung Vater aus. Diese Analogie zu einer menschlich erfahrbaren Beziehung könnte der Grund dafür sein, dass Gott nach menschlichem, körperlichem Vor-Bild „gedacht" wurde. So erklärt sich auch die Beschreibung eines manchmal unbeständigen, launischen, sogar ohnmächtigen Gottes in der Bibel. Christian Science zeigt hingegen, dass der Mensch als geistige Idee des göttlichen schöpferischen Prinzips geschaffen und so mit allen seinen guten Eigenscahften begnadet ist, insbesondere mit der Eigenschaft, in Harmonie zu allen anderen Geschöpfen Gottes zu stehen — selbst wenn uns das nicht immer klar und einleuchtend erscheint.
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