In verschiedenen Zeiten und Kulturen haben die Menschen mit dem Begriff Seele die unterschiedlichsten Vorstellungen verbunden. Oft wird die Seele als belebendes Element des menschlichen Körpers angesehen im Gegensatz zur seelenlosen Materie. Stirbt der Körper, dann, so sagte man, hat der Mensch „seine Seele ausgehaucht”. Oder die Seele wird als Trägerin des Unbewussten oder auch des menschlichen Gefühlslebens verstanden oder einfach als substanzloses Phänomen. Meistens aber als eine nicht fassbare, immaterielle Wesenheit.
Dass sie einen Einfluss auf unser Wohlbefinden hat, wird von vielen Menschen anerkannt. Die Vielzahl seelischer Krankheiten in unserer Zeit und die langen Wartelisten für einen Termin bei einem Psychotherapeuten und anderen Fachleuten sind auch nicht zu übersehen. Aber wo und was ist die Seele und wie können wir sie besser verstehen, um sie zu pflegen, und dadurch gesünder zu sein?
Die biblischen Schreiber vorchristlicher Kultur verbinden die menschliche Seele sehr oft mit dem höchsten Wesen, Gott. Der Prophet Jeremia schreibt in den Klageliedern der Bibel: „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen” Klgl 3:24. und König David sang in den Psalmen: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Denn er ist mein Fels, meine Hilfe, mein Schutz, dass ich gewiss nicht fallen werde.” Ps 62:2.
Sie bringen Seele mit etwas außerhalb des Menschlichen, mit dem Absoluten, dem Göttlichen, in Verbindung — und das nicht ohne Grund. Tröstung, Kraft und Zuversicht waren schon damals das Ergebnis dieses Verständnisses. Den Sitz der Seele völlig außerhalb des menschlichen Körpers und der menschlichen Gefühlswelt anzusetzen und dann von ihr aus die menschliche Seele zu erklären ist der weiterführende Schritt, den Christian Science macht. Ein guter Vergleich für das Wesen von Seele ist das Sonnenlicht in seiner Beziehung zur Erde. Es ist immer vorhanden, unabhängig von Wolkenschichten oder dem Stand der Planeten und wird, wenn diese sich weiterbewegen, für das menschliche Auge sichtbar, sobald der Mensch sich ihm zuwendet.
In Wissenschaft und Gesundheit hat es die Autorin Mary Baker Eddy, die man auch als Expertin für die Seele-Körper-Beziehung bezeichnen könnte, so beschrieben: „Die Sonne ist eine bildliche Darstellung der Seele, außerhalb des Körpers, die dem Universum Dasein und Intelligenz verleiht.” Wissenschaft und Gesundheit, S. 510. So wie das Sonnenlicht durch Reflektion an unzähligen Gegenständen sichtbar wird, werden die Eigenschaften der Seele als göttliche Wesenheit am Menschen sichtbar.
Innere Ruhe, Friede, Gelassenheit, Freude und die vielen anderen wohltuenden Wesenszüge des Menschen haben ihren Ursprung nicht im Menschen. Sie sind kein Eigenverdienst, sie können nicht durch Willenskraft produziert werden, aber sie können auch nicht einfach verschwinden. Sie kommen aus göttlicher Quelle und drücken sich durch den Menschen aus. Man könnte sagen: Seele reflektiert sich als menschliches Bewusstsein.
So gesehen ist Seele ein Synonym für Gott, der sich der Bibel zu Folge ja ebenfalls im Menschen abbildet. Christian Science erklärt diese Beziehung zwischen Gott oder Seele und dem Menschen eingehend und anschaulich. Die Frage: „Was sind Körper und Seele?” beantwortet Mary Baker Eddy in Wissenschaft und Gesundheit u. a. folgendermaßen: „Der Mensch ist der Ausdruck von Seele. Die Indianer hatten einen Schimmer von der zu Grunde liegenden Wirklichkeit, als sie einen bestimmten schönen See „das Lächeln des großen Geistes” nannten.” Ebd., S. 477.
Wenn sich im Menschen und auch in der Natur die Eigenschaften der göttlichen Seele abbilden, dann liegt in der Hinwendung zu solchen Eigenschaften und deren Anerkennung und Nutzbarmachung die Heilung der menschlichen Seele und des menschlichen Bewusstseins. Der Heiltätigkeit Christi Jesu geht die Bergpredigt voraus, in der er die Eigenschaften göttlicher Seligkeit, wie Sanftmut, Empfänglichkeit für Geistiges, reines Denken, Friedfertigkeit in den Mittelpunkt stellt. Sie erhalten offensichtlich den Menschen harmonisch und gesund.
Ich konnte diesen Zusammenhang zwischen Seele und meiner Gesundheit als heilend erleben, als ich im Urlaub an einem See war. Schon immer empfand ich ihn wegen seiner Wasserfarben und Uferformen durch die ihn umgebenden Berge vielleicht als ähnlich schön wie die Indianer den vor ihnen liegenden im oben erwähnten Zitat. Wir paddelten ziemlich schnell vom Ufer weg auf die glitzernde Wasserfläche hinaus, als das, was ich anfangs für eine vorrübergehende Irritation des Auges gehalten hatte, zu einer unangenehmen Entzündung wurde. Das Auge tränte, war sehr lichtempfindlich und schmerzte. Da wir schon bald das Ziel, eine schön bewachsene Felseninsel, erreicht hatten, beschloss ich, den Ausflug nicht abzubrechen, und mir statt dessen hier und jetzt der Unversehrtheit der Seele und meines Daseins als ihr Ausdruck bewusst zu bleiben. Mit innerer Hingabe wandte ich das Denken vom Körper weg und zu Seele hin, indem ich die Eigenschaften des Wassers, des Lichts und der Pflanzen um mich herum als Ausdruck göttlicher, geistiger Ideen wahrnahm — die Reinheit und Frische des Wassers während des Schwimmens, die Festigkeit der Felsen, die Wärme der Sonne, das sanfte Rascheln der Blätter im Wind.
Dazu beobachtete ich (mehr hörend als sehend), wie eine Familie mit vielen Kindern ihr Boot anlegte und sich sehr hilfsbereit und fürsorglich über die Klippen an Land half. Die Christlichkeit, die in dem umsichtigen Verhalten zum Ausdruck kam, hielt mir wieder die Gegenwart der Seele vor Augen, wobei das Auge der äußeren Empfindung nach immer noch schmerzte. Aber die harmonischen Eigenschaften um mich herum weckten in mir das starke Verlangen, selbst an ihnen Teil zu haben.
Da musste ich auf einmal an den herannahenden Besuch eines Bekannten denken und empfand dabei eine gewisse Anspannung. Deshalb verbrachte ich eine Weile damit, diesen Besuch ganz ins Licht froher Erwartung zu stellen und alle Bedenken und Vorurteile bewusst fallen zu lassen. Es war mir ein wichtiges Anliegen, soweit es mir möglich war, Ausdruck von Seele zu sein und nichts, was ihr wesensfremd ist, in meinen Gedanken zu hegen. Das Auge war noch am selben Abend völlig klar und beruhigt und der neue Gast für den Rest des Urlaubs eine willkommene Bereicherung.
Der Seele Ausdruck zu verleihen bringt ein friedevolles, beglückendes und heilendes Element in das menschliche Erleben. Es ermöglicht uns, von der göttlichen Ursache aus auf die menschliche Erfahrung zu folgern. Mit dieser Hinwendung zu den unwandelbaren Eigenschaften der Seele werden ihre Harmonien für die menschliche Seele und den menschlichen Körper fühlbar, so wie die Sonne im Sonnenstrahl sichtbar und fühlbar wird.
