Im Mai 1991 traf ich eine Bekannte auf dem Schulhof, die ursprünglich aus England stammt. Sie wusste, dass wir für den Sommer in ihre Heimat fahren wollten und fragte mich nach dem Stand der Dinge. Da bemerkte ich, dass wir durch aufwändige Umbauarbeiten in unserer Wohnung ganz vergessen hatten, uns darum zu kümmern, eine Familie zu finden, die nicht nur an den Einnahmen durch Vermietung, sondern auch an Kontakten zu uns interessiert wäre. Daher, sagte ich meiner Bekannten, sähe ich für dieses Jahr keine Chance mehr nach England zu fahren.
Wieder zu Hause aber sagte ich mir: „Warum willst du eigentlich resignieren? Es gibt doch Organisationen, die solche Familien vermitteln.” Mein Entschluss stand fest — zur Tat aber (d. h. zu ein oder zwei Briefen auf Englisch) war es noch ein weiter Weg. Erst etwa drei Wochen später raffte ich all meine Willenskraft zusammen und nahm mir vor, am nächsten Tag ganz bestimmt die Briefe zu schreiben.
Doch es sollte zunächst anders kommen. Am nächsten Morgen nämlich fand ich die drei chinesischen Deutschschüler meiner Klasse in einer ganz elenden Verfassung. Sie erzählten mir, dass sie in einen anderen Stadtteil ziehen müssten, sechs Leute in eine winzige 3-Zimmer-Wohnung, in der ein Zimmer gar kein Fenster hätte, und dass es deshalb ihr letzter Schultag an unserer Schule wäre.
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