Ich wurde als Muslimin in Algerien geboren. Doch erst als ich in Frankreich mein Jurastudium beendete, entdeckte ich in der Pariser Moschee den islamischen Glauben für mich wieder. Ironischerweise geschah das, als ich einen außergewöhnlichen Mann traf, nämlich den Rektor der Pariser Moschee, der mich zur Leiterin seines Büros machte. Besonders als Frau wird dein Interesse geweckt, wenn du mit einem großartigen Mann arbeitest, der dir erklärt, dass der islamische Glaube so simpel sei wie 2+2=4 und dass es sich nicht um den eigentlichen islamischen Glauben handele, wenn er nicht so logisch ist wie diese Gleichung.
Ich habe mich bei meiner Arbeit für ihn nie eingeschränkt gefühlt. Ich konnte mich frei entfalten, ausdrücken und eigenständig denken. Obwohl er Theologe war, der an renommierten islamischen Universitäten ausgebildet worden war, diskutierte ich alles offen mit ihm. Er lehrte mich einen islamischen Glauben, den ich ruhig und gelassen und offen leben kann.
Wie alle anderen Religionen steht der Islam für Ideale, die es umzusetzen gilt. Natürlich ist der Weg lang und schwierig. Ich lernte von diesem Rektor in Paris, Religion aus dynamischer, intelligenter und moderner Sicht zu betrachten. Der Glaube muss praktisch sein. Er muss es dir erlauben, dich weiterzuentwickeln und in dem historischen und geographischen Kontext zu leben, in dem du dich befindest. Der Rektor war ausdrücklich dafür, dass jeder seinen Glauben auf einfache Art und Weise lebt, und er wies Bräuche zurück, die auf blindem Glauben basieren, eingeschlossen solche, die Frauen einschränken.
Ich brauche von Gott viel Kraft, um — trotz allen Widerstands, trotz aller Kritik — praktizierende Muslimin zu sein. Nehmen wir zum Beispiel die Pflicht, dass Frauen einen Schleier tragen müssen. Im Koran gibt es einen Vers, wo Gott dem Propheten Mohammed mitteilt, dass seine Frauen Schleier tragen und sich verbergen müssen. Einige haben daraus geschlossen, dass alle muslimischen Frauen Schleier zu tragen haben, da die Frauen des Propheten ihre Vorbilder sind.
Einmal fragte ich einen Wirtschaftsprofessor an einer Pariser Universität, ob er in der Universität eine Djellaba, die traditionelle Kleidung für die Freitagsgebete, trage. Er antwortete, dass er am Arbeitsplatz einen Anzug anhabe. Daraufhin erklärte ich, dass es nach heutigen Gesichtspunkten ebenso wenig angebracht sei, Frauen hinter Schleiern zu halten. Die Folge ist nämlich, dass Frauen die Schule wegen des Schleiers frühzeitig verlassen. Wenn sie ihre Schulbildung nicht abschließen, versäumen sie meiner Meinung nach eine der fundamentalen Pflichten des Islam zu erfüllen — die Pflicht der Wissensaneignung. Darüber hinaus befinden sie sich ohne eine Ausbildung in einer äußerst unsicheren gesellschaftlichen Lage.
Als ich meine Ansichten über die Verschleierung äußerte, wurde ich von einigen, die mich für ignorant halten, heftig kritisiert. Doch meine Einstellung basiert auf dem Koran. Im Koran gibt es einen Vers, der zeigt, dass die Umstände, in denen man lebt und Gott anbetet, ausschlaggebend sind. Dort heißt es: „Gott legt der Seele nur das auf, was sie auch ertragen kann.” Mit anderen Worten: Gott verlangt von uns nicht das Unmögliche. Ich kämpfe nicht gegen den Schleier an sich. Ich kämpfe gegen die Ignoranz, die den strengen Respekt vor dem Schleier aufrecht und Frauen damit gefangen hält.
Als der Rektor starb, musste ich die Pariser Moschee nach fünf Jahren als Büroleiterin unter sehr traurigen Umständen verlassen. Damals fühlte ich mich zutiefst verletzt. Doch mittlerweile bin ich Gott für diesen Schritt dankbar, denn er gewährte mir mehr Freiheit. Ich konnte über meine Interessen nachdenken und sie weiterverfolgen, einer Institution Gedanken machen zu müssen. Das hat meinen Glauben gestärkt.
Was ich für die Moschee getan habe, das habe ich für Gott getan. Und das gilt jetzt auch für meine Arbeit als Rechtsanwältin. Ich bin eine gläubige Muslimin — wo immer ich bin, was immer ich tue. Für mich muss der Glaube immer umgesetzt werden. Wenn ich die Werte nicht lebe, die mich meine Religion lehrt, was habe ich dann von der Religion? Gott ist jeden Tag, in allen Dingen, allmächtig. Ich danke Gott für das Leben, das er mir geschenkt hat, für meine beruflichen Entscheidungen, für meine Familie und für die Menschen, die ich kennen gelernt habe.
Im Rahmen meines Einsatzes für Frauen rate ich diesen ihre Arbeitsplätze zu behalten. Ich habe die Vision, dass sich der islamische Glaube weiterentwickeln kann. Frauen sollten nicht zu Hause herumsitzen und sich sagen: „Gott wird mir helfen.” Denn Gott ermutigt dazu aktiv zu sein! Sich auf Ihn zu verlassen sollte bedeuten, Seine Worte als Hilfestellung zu sehen. Würden muslimische Frauen das tun — würden sie sich mit dem islamischen Gesetz besser auskennen —, dann lebten sie nicht in solcher Unsicherheit. Sie würden nicht so leicht aus ihren Häusern verwiesen oder eingesperrt. Der Koran schreibt einer Frau nicht vor, dass sie ihren Ehemann um Erlaubnis fragen muss, wenn sie ein Bankkonto eröffnen will. Muslimische Frauen sollten das wissen.
Zur Zeit des Propheten wurde eine Frau zur Marktleiterin ernannt, was eine wichtige Aufgabe im Geschäftsleben war. Zu einer bestimmten Zeit gab es sogar eine Justizministerin, eine Ministerin der Scharia. Um emanzipiert zu sein — um ihre Rechte einzufordern und ihre Pflichten zu erfüllen —, müssen muslimische Frauen den Islam wirklich kennen und dürfen nicht nur dagegen rebellieren. Kurz gesagt, wir alle müssen in Gottes Händen leben.
