Meinen Nachbarn sollten Sie mal kennen lernen.
Das erste Mal, als ich ihn erlebe, will mich gerade auf der Straße sein großer Schäferhund anspringen. Ruft der Mann mir doch zu: „Der will nur spielen.”
Entweder verschmutzt mir der Hund die Kleidung, denke ich, oder er beißt mich. Und der Mann sagt dann vielleicht: War doch nur im Spiel.
Eines Morgens ziehen dann Autoabgase durchs Fenster. Lässt der Herr Nachbar sein altes Auto warm laufen und der Auspuff ist kaputt. Lärm, Gestank. Und er lädt in aller Gemütlichkeit hinten ein Paar Kisten ein.
Und als ich ihn mal grüße, brummt er irgendetwas ohne mich anzusehen. Das ist mein Nachbar. Ich sage Ihnen: So ein Nachbar. Es ist zum Heulen.
Mir fällt eine Zeitungsmeldung ein: 86 Prozent aller Deutschen sind mit ihren Nachbarn unzufrieden, haben was zu nörgeln. Also, genau so ist es doch. Nicht ich bin das Problem. Er ist doch so komisch.
Irgendwann überlege ich mal, wie ihn wohl seine Freunde sehen. Als so einen Muffel? Wahrscheinlich nicht. Ich lasse mich auf folgendes Gedankenspiel ein: Vielleicht ist er ja ganz anders. Na ja, nicht ganz anders, aber vielleicht etwas anders.
Vielleicht sehe ich schlechte Dinge in ihm, die andere nicht sehen. Vielleicht ist er ganz okay. Kann ja sein. Aber ich habe eine ganze Liste mit „Aber”, die diesen Gedankengang eher unwahrscheinlich erscheinen lassen.
Sonntag bin ich in der Kirche. Ich höre, wie jemand nach dem Gottesdienst zu einer Freundin sagt: „Und in diesem Kollegen habe ich dann Gottes Bild und Gleichnis gesehen." Worum es in diesem Gespräch ging, weiß ich nicht. Nur dieser Satz dringt zu mir. (Die Worte „Bild und Gleichnis" stammen aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 1, in der Bibel. Im Wesentlichen besagen sie, dass der Mensch geistig ist und nur gute Qualitäten wie Freundlichkeit, Höflichkeit und Rücksichtnahme zum Ausdruck bringt. Zu wissen, dass diese Qualitäten selbstverständlich sind, hilft einem sie im täglichen Leben zu erfahren.)
Ich stelle mir vor, wie ich diesem Nachbarn sage: „Sie sind Gottes Bild und Gleichnis." Da muss ich lachen. Denn er sagt dann: „Sie sind vielleicht ein Spinner. Damit kann ich nichts anfangen." (Ich bin sicher, er versteht nicht, was damit gemeint sein könnte.)
Würde mir wahrscheinlich ähnlich gehen, wenn ich er wäre. Aber es geht ja auch eine Nummer kleiner, vielleicht so: „Wahrscheinlich sind Sie gar nicht so, wie es mir bisher erschienen ist."
Ich bin gespannt, ob sich dazu mal eine Gelegenheit ergibt.
Zwei Tage später läutet er an meiner Tür. Er hat ein Paket für mich entgegengenommen, als ich nicht da war. Der Postbote hatte ihn gefragt, ob er es mir am Abend geben würde.
Sagt der zu mir, als ich mich bedanke: „Mach ich doch gern. Sie sind doch auch immer freundlich.” (Wenn der wüsste, wie ich über ihn gedacht hab!) Jetzt kommt die Gelegenheit. Ich sage: „Übrigens, Sie sind doch rücksichtsvoll. Können Sie es nicht einfach lassen, Ihren Motor immer so lange laufen zu lassen? Die Abgase ziehen uns immer in die Wohnung.”
Er: „Oh, vielen Dank, dass Sie mir das sagen. Da habe ich noch nie drüber nachgedacht. Mach ich. Alles klar. Kein Problem.”
Meinen Nachbarn, den sollten Sie mal kennen lernen. So was von nett. (Übrigens, wenn Sie es unbedingt so sagen wollen: Ja, er ist auch ein Bild und Gleichnis Gottes.)
