Mein Mann und ich liebten den Wassersport. Wir kauften einen Zweier-Canadier — groß, schwer, Platz für viel Gepäck, Farbe gelb. Wir nannten ihn Galeere.
Die anfängliche Begeisterung wich schnell einer Ernüchterung. Wir brauchten immer fremde Hilfe für den Transport. Das Boot ließ sich schwer steuern. Bei Gruppenfahrten bildeten wir das Schlusslicht. Die körperliche Anstrengung war groß. Die Sitzfläche hart und unbequem. Beim Paddeln stieß ich mir die Hände wund. Jedes anvisierte Ziel erschien mir unerreichbar.
Ich war sauer!
Das war allerdings ein Gemütszustand, den ich überhaupt nicht mochte. Wie heißt es doch in der Bibel (Spr 12:13): „Ein fröhliches Herz macht ein fröhliches Angesicht.” Ich wollte gern fröhlich sein und auch fröhlich ausschauen. Ich meinte, ich hätte ein Recht darauf, fröhlich und zufrieden zu sein. Und so begann ich zu beten.
Durch ungezählte stille Gebete, durch ständiges Kommunizieren mit Gott wurde mir bewusst, dass diese Missstimmung sich nicht allein auf die Freizeit beschränkte. Sie hatte sich in alle Bereiche eingenistet: Beruf, Familie, Freunde, Gesundheit, Finanzen.
Die Versuchung war groß und es wäre bequem gewesen, anderen diesen unerfreulichen Zustand anzulasten. Es gab viele Gründe, immer wieder die anderen als Auslöser meiner Unzufriedenheit heranzuziehen. Irgendwann fragte ich mich dann aber: Wer sind denn eigentlich diese anderen? Im Christian Science Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy las ich auf Seite 231: „Gott ist nicht der Urheber sterblicher Missklänge”. Und ich folgerte daraus, dass logischerweise der Mensch es auch nicht sein kann. Gottes Schöpfung ist fehlerfrei, harmonisch, fröhlich, vollkommen. Für mich hieß das: Hier geht es also darum, mich nicht von äußeren Umständen beeindrucken zu lassen, sondern Gott und dem von Ihm erschaffenen Menschen treu zu sein.
Diesem Bild von einem einzigartigen guten Menschen, der mit allen göttlichen Eigenschaften ausgestattet ist, absolute Treue halten, lässt kein anderes Bild vom Menschen im Gedanken zu. Die Konsequenz: Ich konnte anderen nicht mehr anhängen, Schuld an meiner Unzufriedenheit zu sein. Ich musste meine Sicht auf meine Mitmenschen korrigieren. Es war meine eigene Entscheidung, wie ich über sie denken und sie sehen würde.
Dieses zu erkennen und dann auch in den täglichen Angelegenheit anzuwenden war ein langer Prozess. Während dieser Zeit wurde es immer deutlicher, dass „Neigungen und Ziele geistig werden müssen” (siehe ebd., S. 265). Diese geistigen Neigungen, dieses verstärkte Hinwenden zu Gott zeigte sich u. a. in aktiverer Kirchenarbeit, in intensiverem Studium von Christian Science, aber auch in liebevollerem Umgang mit meinen Nächsten.
Ein Höhepunkt auf diesem Weg war für mich das Amt des Ersten LesersIn Christian Science Kirchen lesen jeweils zwei gewählte Kirchenmitglieder als Predigt im Gottesdienst eine weltweit einheitliche Lektion aus Bibel und Wissenschaft und Gesundheit.. In meiner Zweigkirche wird der Gottesdienst auch in englischer Sprache abgehalten. Da meine Englischkenntnisse sehr dürftig sind, bat ich Gott ganz schnell, sehr intensiv und voller Überzeugung darum, dass der noch zu wählende Zweite Leser — bitte sehr — die englische Sprache perfekt beherrsche. Gott hat mich nicht im Stich gelassen. Er hat die Sache treu und zuverlässig geregelt. Die Muttersprache meines damaligen Leserkollegen ist Englisch. Diese Leserzeit hat mich sehr geformt. Die geistigen Ziele, u. a. der Wunsch nach Harmonie und Frieden, zeigten sich auf ganz natürliche Weise: Das gestörte Miteinander mit meinen Mitmenschen wurde durch Ehrlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft und Wachsamkeit geheilt, ebenso finanzielle Engpässe im geschäftlichen und privaten Bereich.
Im Wörterbuch Wahrig schlug ich damals unter Disharmonie nach und fand Folgendes: „Schlechtes Zusammenklingen; uneinig sein”. Unter Harmonie: „Angenehme Übereinstimmung der Teile eines Ganzen; die innere Harmonie wiedergewinnen.”
Mein Mann und ich liebten den Kanusport auch weiterhin. Schließlich kauften wir einen neuen Zweier-Canadier. Schmaler, leichter, leichter, gut zu steuern, sehr bequeme Sitze, Farbe dunkelrot. Im Wassersport-Verein ist es üblich, dass jedes neue Boot getauft wird. Doch keiner der Namensvorschläge gefiel uns. Am Samstag sollte nun die Bootstaufe sein. Mittwochabend in der Zeugnisversammlung hörten wir unter anderem vom Leserpult: „Arche ... Geborgenheit ... überwundene Versuchung, auf die Erhebung folgt.” (Ebd., S. 581). Ich flüsterte meinem Mann neben mir zu: „Das Boot heißt Arche” — und er nickte zustimmend.
Wann immer wir aufs Wasser gingen, am liebsten auf den Rhein bei Rückenwind und Sonnenschein, glitten wir über die Wellen, erfreuten uns der schönen Natur, redeten über Gott und die Welt. Während ich vorne als Schlagfrau Kirchenund Volkslieder pfiff, war mein Mann hinter mir als Steuermann vollauf damit beschäftigt, vorbeiziehenden Schiffen zuzuwinken oder den Anglern gute Ratschläge zu geben. Mit leichten Paddelschlägen brachte uns die „Arche” an unser anvisiertes, gemeinsames Ziel: Harmonie. Und obwohl mein Mann heute nicht mehr unter uns weilt, ist das gemeinsame Ziel, Harmonie, immer geblieben und ich erlebe dieses Gefühl zu Land genauso wie früher auf dem Wasser.
