Es ist Samstagmorgen und wieder einmal fällt die schwere Metalltür zum Tonstudio hinter mir ins Schloss. Ich mache es mir im Drehstuhl bequem und schlage das Buch auf, aus dem ich die nächsten zwei Stunden vorlesen werde, und ich sage mir: Lass dir Zeit.
Ich habe mich freiwillig angeboten, Bücher auf Tonband zu sprechen, damit Blinde sie sich anhören können, und es hat ungefähr ein Jahr gedauert, bis ich lernte, dass man langsam lesen und das Buch in sich aufnehmen muss. Man stellt eine Beziehung zu ihm her. Wenn man sich von dem Getriebe um sich herum mitreißen lässt und einfach nur so dahinliest, entgeht einem Wichtiges.
Ganz gleich, ob es sich um ein Lehrbuch über das Marketing einer Warenmarke handelte, um eine Sammlung von Kurzgeschichten aus Afrika oder um ein Standardwerk von Charles Dickens — bei jeder Aufnahme habe ich so um die Mitte herum festgestellt, dass ich nicht nur mit dem Inhalt des Buches vertraut wurde, sondern auch den Autor kennen lernte.
Ich musste deshalb an meine Beziehung zu einem alten Freund denken — an Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy. Wie viel mehr könnte ich von dem Buch profitieren, wenn ich das Lesetempo verlangsamen und mit mehr Aufmerksamkeit lesen würde, wenn ich einmal sozusagen um die Ecken schaute, anstatt an ihnen vorbeizulaufen?
Als ich Wissenschaft und Gesundheit das nächste Mal aufschlug, dachte ich mich in die Rolle eines wissbegierigen Lesers hinein, der das Buch zum ersten Mal in der Hand hält. Und ich befasste mich eingehend mit einer Seite auf einmal.
Gleich am Anfang, auf der Titelseite, fiel mir auf, dass das Buch von einer Hochschulleiterin geschrieben war. Sie war die Präsidentin eines staatlich anerkannten Colleges, das sie selber gegründet hatte. Das sagte mir, dass die Autorin in der Pädagogik beschlagen war und auch in der Verwaltung einer Hochschule, der Aufstellung eines Lehrplans und in der Zusammenarbeit mit dem Lehrkörper und dem Unterrichten von Studenten. Das allein würde interessanten Lesestoff hergeben. Doch das ist nicht das Hauptthema dieses Buches. Vielmehr geht es um das Heilen.
Das Buch legt die metaphysische Heilmethode dar, die Mary Baker Eddy entdeckte und die sich auf ihr Bibelstudium, ihre geistigen Erkenntnisse und ihre eigenen Erfahrungen im Heilen gründet. Sie nannte ihr System Christian Science, und es basiert auf der Macht der Wahrheit, der Macht Gottes, die Krankheit und Sünde heilt. Da sie sich bewusst war, dass diese Behauptung Beweise erfordert, fügte sie ihrem Buch noch hundert Seiten hinzu, die persönliche Heilungsberichte enthalten und die bestätigen, dass mit ihrem System alle möglichen Leiden geheilt werden können.
Ehe ich weiterlas, ging ich zur Titelseite zurück, da sich mir die Frage stellte: Warum ein College? Das muss ein gewaltiges Unterfangen gewesen sein. In welcher Beziehung stand es zu ihrem Buch? Vielleicht beantwortete sie diese Frage irgendwo.
Auf die Antwort stieß ich, als ich weiterlas: „Ein Buch führt neue Gedanken ein, aber es kann nicht bewirken, dass sie schnell verstanden werden” (S. vii). Vielleicht sah sie das College als ein Mittel an, mit dessen Hilfe die Menschen die Wissenschaft in ihrem Buch schneller verstehen würden. Schließlich können Studenten Fragen an den Lehrer stellen und ihre eigenen Erkenntnisse mitteilen.
Was stand sonst noch im Vorwort? Mir wurde klar, dass die Autorin Christian Science nicht aus dem Ärmel schüttelte. Bescheiden beschreibt sie ihre ersten Gedanken zu dem Thema als „unreif” und als „kindliches Plappern”, was mir zeigt, dass sie diese Seiten nicht nur mit der von ihr entdeckten Wissenschaft anfüllte, sondern auch den Weg beschrieb, der zu ihrer Entdeckung führte. Dass sie uns alle auf ihrem Weg mitnimmt, zeigt, wie viel Mitgefühl sie empfand, wie überzeugt sie von ihrer Entdeckung war und wie sehr sie die Menschheit liebte.
Bevor sie Wissenschaft und Gesundheit gründlich überarbeitete, vertiefte sie sich jahrelang in die Bibel und heilte, schrieb, hielt Vorträge und lehrte. In einem Zeitraum von sieben Jahren unterrichtete sie an ihrem College Tausende von Schülern in Christian Science. Sie muss also aus Erfahrung gewusst haben, worauf ein Sucher nach Spiritualität aus ist. Wer in ihrem Buch Inspiration, Heilung und geistiges Verständnis sucht, wird von einer Verfasserin angesprochen, die sich in derselben Lage befunden hat. Sie kennt sich im Herzen des Wahrheitssuchers aus, weil sie selbst einer ist und weil sie möchte, dass ihr Buch den Wissensdurst des Suchers stillt, wie es auch ihren Durst gestillt hat.
Als ich das sechs Seiten lange Vorwort fertig gelesen hatte, glaubte ich die Verfasserin besser zu kennen. Unsere Beziehung hatte sich vertieft.
Doch halt! Etwas fehlte noch. Wo war die Widmung? Die meisten Autoren geben ihrem Buch eine Widmung mit auf den Weg. Auf meinem Schreibtisch hier liegen verschiedene Bücher mit der Widmung: „Für meine liebe Frau.” Oder: „Für meine Familie und meinem Vater zum Gedenken.” Hatte Mary Baker Eddy von einer persönlichen Widmung abgesehan?
Nein, ganz und gar nicht. Anstatt davor, schreibt die Verfasserin am Ende des Vorworts, dass sie „diese Seiten den ehrlichen Suchern nach Wahrheit” überreicht. Da musste ich innehalten.
Was für eine Ehre. Das Buch, das ihr ganzes Leben lang ein Teil von ihr gewesen war, ist mir gewidmet, stellte ich fest, und auch Millionen anderen Wahrheitssuchern. Es ist, als wollte sie uns sagen: „Ich weiß, was es heißt, ein Sucher zu sein. Ich weiß auch, was diese Wissenschaft zu bieten hat. Alles in diesem Buch ist für dich. Lass uns diesen Weg gemeinsam gehen.”
Mir war klar, dass es ein weiter Weg ist. Ich holte tief Luft und blätterte um. Ich war bereit den Weg zu beschreiten. Ich werde es nicht in Eile tun, damit mir nichts entgeht.