Krise — dieses Wort springt uns regelrecht entgegen. Rentenkrise. Gesundheitskrise, Arbeitslosenkrise, Irakkrise. Wie soll man reagieren? Stecken Chancen in dieser Zeit?
Ein russischer Wissenschafter, Nikolai Kondratieff, entdeckte in den Jahren zwischen 1919 und 1921 wirtschaftliche und gesellschaftliche Wachstumsschübe, die von der Erfindung und Anwendung bahnbrechender Basisinnovationen ausgelöst werden. Diese jeweils 40-60 Jahre dauernden Phänomene nannte er lange Wellen, später Kondratieffzyklen. Erik Händeler und Leo A. Nefiodow beschreiben in ihren Büchern (Die Geschichte der Zukunft und Der Sechste Kondratieff) diese Zyklen und eröffnen Ausblicke auf die Zukunft. Die meisten Aussagen dieses Artikels beziehen sich auf die beiden Bücher.
Die erste Innovation war die Dampfmaschine, mit deren Hilfe eine moderne Industrieproduktion in der Textilindustrie begann. Ihr folgte die Eisenbahn, die Elektrotechnik, die Automobilindustrie und schließlich die Informationstechnik, der 5. Kondratieff. Er begann ca. 1970 und läuft bis heute. Dieser Zyklus ist der erste, der nicht mehr primär von Materie (Bodenschätze usw.) getragen wird, sondern von der Verwertung einer immateriellen Größe — Information.
Das Ende jeder Welle deutet sich durch Krisensymptome an, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Pessimismus, Rezession, mangelnde Perspektiven. Mit jedem Zyklus-Wechsel kommt ein komplexes Muster neuer Erfordernisse auf den Menschen zu — Anforderungen, auf die kaum jemand vorbereitet ist.
Wenn eine Basisinnovation erschöpft ist, bzw. an Grenzen des Wachstums stößt, wird eine neue erforderlich, die jeweils den größten bestehenden Mangel behebt. So konnte mit Hilfe der Dampfmaschine zwar bedeutend mehr produziert werden, man stieß jedoch bald an Transport-Engpässe — die vielen Güter konnten mit Hilfe der Pferdekarren nicht mehr befördert werden. Erst die Entwicklung der Eisenbahn und des Schienennetzes halfen dem ab.
Aktuell befindet Europa sich in einer Phase, in der es viele Freiheiten, Rechte und relativen Wohlstand für die meisten Bürger gibt. Ressourcen wie Wissen, Technologien, Infrastruktur und Arbeitskräfte sind vorhanden. Die Informationstechnologie hat für enorme Effizienzsteigerungen z.B. in Fabriken, bei Arbeitsabläufen, bei der Textverarbeitung und vielem mehr gesorgt — aber sie beginnt an Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu stoßen. Außerdem fließen in unserer Gesellschaft — bewusst oder unbewusst — sehr viele Ressourcen in Destruktives. Nur einige Beispiele:
• Massenmedien: Sex, Gewalt und Mordszenen werden schon am frühen Nachmittag im Fernsehen angeboten. Untergeordnete Rollen spielen Rücksicht, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Ehrlichkeit und Bescheidenheit.
• In Deutschland sterben jährlich 40.000 Menschen infolge von Alkoholkonsum, 110.000 Menschen durch Tabakkonsum. 2002 starben 1.500 Menschen aufgrund illegalen Drogenkonsums. Ca. 1.200.000 Menschen sind alkoholabhängig, ca. 3 Millionen sind medikamentenabhängig, ca. 120.000 Deutsche sind heroinabhängig. Im Jahr 2000 rauchten rund 35% der Bevölkerung zwischen 18 – 59 Jahren, bei den unter 17-Jährigen waren es 44%.
• Es wird geschätzt, dass jeder zweite Erwachsene in Deutschland übergewichtig ist, die Kosten für falsche Ernährung liegen bei 40 Milliarden Euro jährlich. Ausfälle durch Krankheit kosten die Arbeitgeber jährlich rund 30 – 50 Milliarden Euro. Depression, Neurosen, psychische Krankheiten haben massiv zugenommen: alles Zeichen einer außer Kontrolle geratenen Psyche, die kein (Lebens)Leitplanken mehr hat. Die Schulmedizin stößt an Grenzen, weil sie kurativ — nicht präventiv — ist. Umsatz in der „Gesundheits”-Industrie wird vor allem mit „Reparaturen” und neuen Krankheiten gemacht, als sei der Mensch eine Maschine mit immer neuen mechanischen Problemen, die repariert werden müssen.
• Stress und Druck im Beruf kann durch die zerfallenden Familienstrukturen weniger aufgefangen werden: Die Scheidungsrate in Deutschland liegt bei knapp 50%.
• Ausgeprägter Individualismus — mit hohen Kosten für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Umwelt.
Unsere moderne Zivilisation ist in vieler Hinsicht krank. Menschen suchen ihr Heil in einer „instant gratification” — alles hier und jetzt und immer mehr.
Daraus folgern Nefiodow und Händeler, dass die größten Ressourcenengpässe zur Zeit Krankheit, Korruption und ungesundes, energieverzehrendes Verhalten sind.
Nefiodow stellt die Frage, ob die menschliche Vernunft allein diese Probleme lösen und uns zu kooperativen, hilfsbereiten und moralischen Menschen machen kann. Er antwortet, dass überall dort wo etwas über rein physikalisches, logisches Beweisen hinausgeht, die Ratio und das reduktionistische Denken (wahr / falsch, schwarz / weiß...) nicht helfen.
Auch die psychologie, ein Massenphänomen des 20. Jahrhunderts, die unter Umständen Erklärungsansätze und Analysen bietet, kann den Grund für ver-störtes Verhalten nicht beheben: die Leere in uns. Psychotherapie nehmen die seelischen Erkrankungen seit Jahren zu. Viele Menschen haben große Sehnsucht nach etwas anderem, nach Sinn.
Ich frage mich, warum sich sonst so viele (meist unbewusst) auf materiellen Ersatz wie Geld, Macht, Sex, Drogen, Essen usw. stürzen?
Gleichzeitig spielt laut Nefiodow und Händeler das Christentum, das unsere Gesellschaft tiefgehend beeinflusst und geformt hat, eine immer weniger wichtige Rolle. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, einschließlich großer Teile der Gesetzgebung, beruhen auf einer Ethik, die von der christlichen Religion tiefgreifend geprägt ist: eine solidarische Gemeinschaft nach dem Prinzip „behandle deinen Nachbar, wie du behandelt werden möchtest”. Das Zurückdrängen des Christentums hinterlasst eine Lücke, die durch die Vernunft allein nicht gefüllt werden kann. Störung des Glaubens führt — so Nefiodow — zu einer Störung des Lebens. Das Ausmaß der Ver-Störung um uns herum macht dies deutlich.
Gibt es Wege aus diesem Paradox und welche Rolle spielt die Kirche dabei?
In der April-Ausgabe geht es um mögliche Antworten auf diese Fragen und die Auflösung was den nächsten, den 6. Kondratieff ausmachen könnte.
Quellen:
• Leo A. Nefiodow. Der Sechste Kondratieff
• Drogen- und Suchtbericht April 2003, Drogenbeauftragte der Bundesregierung
• http://www2.onwirtschaft.t-online.de/ dyn/c/10/55/13/1055136.html
• http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/238334/ artikel_bild-links_druck_teile
• http://www.dgb.de/themen/mobbing/mobbing_05.htm
• http://www.heute.t-online.de/ZDFheute/artikel/8/0,1367,POL-0-2022792,00.html