Forum: Frau Köcher, die Wertediskussion zwischen Alt und Jung hat es schon immer gegeben. In letzter Zeit spricht man gerade bei den Jüngeren wieder von der Wiederentdeckung des Konservativismus — können Sie das bestätigen? — Köcher: Die Unterschiede zwischen den Generationen gibt es nicht mehr in der Ausprägung wie früher. Das hat auch damit zu tun, dass die Generationen heute in den Familien meist partnerschaftlich zusammenleben, nicht mehr in Form von Altershierarchien. Eltern wie Kinder sind sehr stark von dem Gefühl bestimmt, dass sie voneinander profitieren und jeder spezifische Erfahrungen und Kompetenzen beisteuert. Ob die Einstellungsänderungen in der Gesellschaft mit der Diagnose »Hinwendung zum Konservativen« ausreichend erfasst werden, bezweifele ich. Es ist eher eine Wiederentdeckung von Werten.
Woher rührt die? — Wir leben in einer freien Gesellschaft, die sich nur positiv entwickelt, wenn sie an ein klares Wertekonzept gebunden ist. ... Der Sieg einer freien Gesellschaft ist abhängig davon, wie die Freiheitsspielräume benutzt werden; sie kann zu einer Gesellschaft der Starken, sogar der Rücksichtslosen werden, wenn sie nicht von Kindesbeinen an auf Verantwortung für andere ausgerichtet wird. ... Ich denke, das ist ein Grund, warum zurzeit das Interesse an Themen wie Werte, Erziehung und Religion wächst.
Die leeren Rentenkassen und die Diskussion um die private Altersvorsorge animieren einige, eine Art »Verteilungskampf« zwischen Alt und jung heraufzubeschwören. Gibt es den Renten-Generationenkrieg tatsächlich? — Nein. Es gibt kein Feinddenken zwischen den Generationen. Gerade weil die Sicherheitsgarantien des Staates immer mehr reduziert werden, verlassen sich die Generationen viel mehr auf ihren eigenen Familienverbund. Die Familie ist mit das wichtigste Solidarsystem.
Das bedeutet, die Krise schweißt die Generationen zusammen? — Ja. Alle Generationen sind im Moment gleichermaßen stark von der Vorstellung bestimmt, dass die Risiken wachsen. Manchmal denke ich, dass die mittlere und ältere Generation der jüngeren aber den Zukunftsoptimismus schuldig bleibt. ...
Ist es denn wirklich so schlimm? — Nein. Ich denke, dass gerade die Jüngeren enorme Chancen haben in einem Land wie der Bundesrepublik. Bemerkenswert ist, dass der quer durch alle Generationen weit verbreitete Pessimismus den Deutschen selbst auf die Nerven geht. ... Wir beschäftigen uns sehr viel mit Risiken, zu wenig mit den Chancen, die wir haben.
Woran liegt es denn? Was sagt die Demoskopin? — Ich denke, dass die Neigung zur Skepsis bis hin zum Pessimismus teilweise in unserem Nationalcharakter verankert ist, aber auch in den historischen Erfahrungen. In den vergangenen hundert Jahren zwei Weltkriege, Erfahrungen mit Diktatur, ein mehrfacher Wechsel des politischen Systems, und zwar so, dass sich das jeweils folgende politische System als Absage an das vorherige verstand, Erfahrungen mit der Vernichtung auch materieller Werte durch Krieg und Inflation — das hinterlässt Spuren. ...
Was Sie während Ihrer Arbeit auch immer wieder feststellen, ist die so genannte kognitive Dissonanz: Das bedeutet, dass die allgemeine Lage als viel schlechter eingeschätzt wird als die persönliche Lage. Wie hat sich dieser Befund in jüngster Zeit entwickelt? — Das gilt nach wie vor in Westdeutschland wie auch in Bezug auf Ostdeutschland. Die meisten sagen beispielsweise, dass sie durch den Prozess der Einheit in den letzten 15 Jahren Vorteile hatten. Dieselben Befragten gehen aber davon aus, dass sich die Situation für die Mehrheit verschlechtert hat. Bei positiven Erfahrungen neigt der Mensch oft weniger zur Verallgemeinerung als bei negativen.
Sind die Deutschen pessimistischer als andere Nationen? — Teilweise ja, aus den schon genannten Gründen. Wir neigen aber auch mehr als andere Nationen dazu, aus Sachfragen ideologische Diskussionen und sogar Weltanschauungskriege zu machen ....
Welche Stärken hat Deutschland denn? Die Jungen scheinen das oft nicht zu wissen. — Wir haben eine attraktive geografische Lage, wir haben auch besondere Begabungen, etwa für die Entwicklung komplexer Technologien. Wir waren immer eine große Wissenschaftsnation, waren die Apotheke der Welt, und unser Ausbildungs- und Bildungswesen war ausgezeichnet. Viele dieser Stärken haben wir vernachlässigt. ... Deutschland muss mehr wie ein Unternehmen prüfen: Was sind unsere Stärken, und wie können wir diese zur Geltung bringen? Wir denken mehr über Risiken nach und darüber, wie wir Risiken begrenzen, als darüber, wie wir optimal Chancen nutzen können. Das gilt teilweise auch für die europäische Ebene. Das hat Europa nicht für den internationalen Wettbewerb gestärkt.
Was muss die Politik leisten, um diesen Prozess zu fördern? — Sie darf vor allem kein mühsamer Reparaturbetrieb bleiben, wie man es jetzt seit vielen Jahren erlebt hat. Sie muss konzeptionell denken und gestalten. Sie muss eine Vision entwickeln, wo dieses Land in zehn Jahren sein will.
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