Sind Sie schon mal in Boston gewesen? Diese Stadt Amerikas ist dafür bekannt, dass gefahren wird, als ob es keine Verkehrsregeln gäbe. Ich habe dort fünf Jahre gewohnt. Am Anfang hatte ich Angst, in den Straßen von Boston zu fahren. Dann fand ich Geschmack am lockeren Fahrstil der Bostoner. Zum Schluss fühlte ich mich eingeschränkt in meiner Freiheit »normal« zu fahren, wenn ein Fußgänger bei rot gespielt arglos im Schneckentempo die Straße überquerte und mich an der grünen Ampel hat warten lassen. Oder wenn einer von den vielen Toyotas oder Old Town's Mobiles, die in Boston zu finden sind, seine Nase beim Abbiegen schon so weit über meine Straßenhälfte geschoben hatte, dass ich gezwungen war zu halten. Im internet kursieren Witze über den Verkehr in Boston, wie: »Was bedeutet es in Boston den Blinker einzuschalten? Dem Feind sein Vorhaben bekannt geben.«
So saß ich manchen Morgen auf dem Weg zur Arbeit ärgerlich und aufgeregt hinter dem Lenkrad. Dies trug natürlich nicht gerade zu einer guten Arbeitsvorbereitung bei und nach vielen erhebenden Gedanken über Nächstenliebe und andere christliche Werte habe ich es dann geschafft, mich in Ruhe und oft sogar mit Freude durch das chaotische Gewirr in die Arbeit zu begeben. So habe ich dann mit einem leisen Humor akzeptieren können, dass Belb in Boston bedeutet: »Gas geben« und Rot: »Noch vier Autos können durchfahren.« Ach, was soll es eigentlich? So eingeschränkt war meine Freiheit im Verkehr auch wieder nicht, denn die Ordnung und beispielsweise das Recht auf Vorfahrt, das mir in einem Moment genommen wurde, habe ich auf andere Weise zurückbekommen.
Ich glaube, für uns Mitteleuropäer bedeutet Disziplin Freiheit. Für den Amerikaner bedeutet das individuelle Entscheidungsrecht Freiheit: die Freiheit Einkaufen zu gehen wann man möchte oder muss (also auch am Sonntag); die Freiheit so viel Auswahl zu haben, dass man für eine einzelne Packung durch einen 20 Meter langen Gang mit lauter Müsli und Cornflakes laufen muss; die Freiheit seine Kinder zu Hause unterrichten zu können anstatt sie in eine (vielleicht schlechte) Schule schicken zu müssen.
In Boston wird gefahren, als ob es keine Verkehrsregeln gäbe. Am Anfang hatte ich Angst, in den bostonschen Straßen zu fahren.
Aber ein nur kultureller Begriff von dem, was Freiheit bedeutet, ist immer unvollständig. Wenn ich in Deutschland wegen der Sonntagsruhe (ein Begriff, den der Amerikaner gar nicht kennt) meinen Rasen nicht mähen kann, wobei das der einzige Tag wäre, an dem ich dafür Zeit hätte, dann wird da auch meine persönliche Freiheit beschränkt — ob ich diese Regelung nun gut finde oder nicht. So gesehen stellt eine unbegrenzte individuelle Freiheit immer eine Einschränkung der Freiheit vom Gemeinwesen dar und umgekehrt.
lch habe mir die Freiheit genommen, in Ruhe weiterzufahren, und ihm die Freiheit gegeben, sich menschenwürdig zu verhalten. Das ist für mich eine Portion wahrer Freiheit!
Wenn jemanden die »Unfreiheiten« stören, die eine Kultur oder ein Land zu bieten hat, dann sind die christlichen Werte gar nicht so schlecht als Grundlage einer anderen Betrachtungsweise. Sie erinnern uns nämlich daran, dass das menschliche Zusammenleben nicht auf lauter willkürlichen Regelungen basiert oder andererseits von einem Mangel an Regeln bestimmt ist, sondern dass jeder Mensch das Recht auf Geduld und Verständnis hat. Ob man mit dem heutigen Wertesystem, in dem wir leben, einverstanden ist, ist eine Sache. Eine andere ist, dass wir immer unsere eigene Freiheit gestalten können, indem wir den Menschen, denen wir begegnen, Freiheit gewähren. Eine Freiheit, in der ihnen die Würde zugestanden wird und in der sie sich in ihrer Person geschätzt und respektiert wissen. Das ist eine geistige Freiheit, die unabhängig von Land, Kultur oder Mitmenschen ist.
So bin ich einmal in Boston von einem Autofahrer angeschrieen und beschimpft worden, als ich keinen Platz für ihn gemacht hatte, damit er sich in meine Fahrspur einfädeln konnte. Ich habe noch nie so ein böses Gesicht und solche unverschämten Gesten gesehen. Meine Hände zitterten beinahe beim Fahren, als das Bild von seiner Bosheit in meinem Kopf spukte. Meine nächste Reaktion war vielleicht unerwartet. Ich habe mich nicht weiter über ihn aufgeregt, weil ich mich nicht von seiner oder meiner Bosheit beherrschen lassen wollte, sondern von einer inneren Ausgeglichenheit, die ich vorher hatte. Zu Hause bei seiner Familie und seinen Freunden wird dieser Autofahrer bestimmt auch ein würdiger, geachteter Mensch sein. Und ich habe mir gedacht: Dieser Zustand ist der normale, so ist er wirklich, nicht ein vom stockenden Verkehr gehetzter, hektischer, aggressiver Mensch. Und damit habe ich mir die Freiheit genommen, in Ruhe weiterzufahren und ihm die Freiheit gegeben, oder den mentalen Weg bereitet, sich menschenwüdig zu verhalten. Ob er das nachher gemacht hat, weiB ich natürlich nicht mit Sicherheit, aber ich habe mich an diesem Tag vor der Arbeit ausgesprochen frei und gut vorbereitet gefühlt.
Freiheit ist nicht abhängig von anderen Menschen. Absolute Freiheit ist etwas Göttliches und wird uns nicht in Gesetzbüchern gegeben, sondern wir finden sie in uns selbst, wenn wir die Freiheit im Geist unsere Erfahrung und die der anderen gestalten lassen. Das ist für mich eine Portion wahrer Freiheit. Greifen Sie zu!
