Ich hätte nie gedacht, dass ich aus einem kuriosen alten Bild so viel Inspiration schöpfen könnte. Ich unterrichte in Nairobi eine Sonntagschulklasse der 15-19-Jährigen. Das Bild, das die Schüler und ich jetzt liebevoll »unser Bild« nennen, hängt über unserem Sonntagschultisch. Es zeigt die allseits bekannte Geschichte von Daniel, als er zu den Löwen geworfen wurde, wie es in der Bibel im Buch Daniel erzählt wird.
Wir benutzen dieses Bild häufig als Illustration, wenn wir die große Bandbreite an Themen diskutieren, mit denen Kenianer heute konfrontiert sind. Ich habe es als ein erstaunlich vielseitiges Anschauungsbeispiel schätzen gelernt, wenn einem die Ängste begegnen, die mit Aids und anderen Krankheiten, Armut, Arbeitslosigkeit und anderen Nöten einhergehen, die unser Land und ganz Afrika plagen. Das Bild war auch ein Bezugspunkt, als wir über spezielle Angelegenheiten sprachen, unter anderem, wie man mit Prüfungen umgeht oder ein schmerzhaftes Geschwür durch Gebet heilt.
In die Löwengrube geworfen zu werden war im babylonischen Weltreich eine Form der Todesstrafe. Es gab kein Entrinnen vor dem grausigen Ende. Wenn heutzutage in Kenia bei jemandem Aids diagnostiziert wird, wird dies für ein genauso sicheres Todesurteil gehalten, wie vor Tausenden von Jahren in die Löwengrube geworfen zu werden.
Auf dem Bild über unserem Tisch hat der Künstler Daniel im Morgenlicht nach der Nacht bei den Löwen dargestellt. Es ist der Moment, wo Daniel des Königs Frage beantwortet, wie es ihm ergangen sei: »Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat ...« (Daniel 6:23).
Der dargestellte Daniel ist offensichtlich völlig unbesorgt wegen des Rudels Löwen, das hinter ihm auf und ab schreitet und gleichermaßen unbeeindruckt von den Knochenteilen, die zu seinen Füßen herumliegen. Der Lichtkreis um Daniel erinnert mich an ein Versprechen aus den Psalmen: »Er wird dich mit seinen Fittichen decken ...« (Psalm 91:4). Hier ist jemand absolut gelassen trotz all der Kräfte, die sich gegen ihn stellen — sowohl innerhalb wie außerhalb der Grube. Es ist eine wunderbare Botschaft für jeden, der sich mit irgendeiner Art von Herausforderung herumschlagen muss.
Kenia wird das »Löwenland« genannt und Löwen sind ebenso sehr ein Teil des nationalen Images wie es unsere Fahne ist. Sie sind die größten, stärksten und auch wildesten Vertreter der Raubkatzen. Es wird ziemlich klar, dass der Künstler »unseres Bildes« das Verhalten von Löwen gut verstand, wenn man das Auftreten, die Körperhaltung und den lebhaften Ausdruck in ihren Gesichtern betrachtet.
Vor zwei Jahren sorgte eine Löwin im Nairobi Nationalpark für Schlagzeilen, als sie ein Oryx-Junges (eine Antilopenart) adoptierte. Nun weiß jeder Kenianer, dass eine Oryxantilope Löwenfutter und ein junges Kalb eine besonders leichte Beute ist. Diese beiden Kreaturen jedoch liefen im Park Seite an Seite umher wie zwei alte Freunde. Die Löwin schützte das Antilopenjunge, sogar vor anderen Räubern wie Hyänen.
Alle möglichen Theorien über das Verhalten der Löwin — von biblischen bis zu biologischen — wurden in der Presse heiß diskutiert. Es war eine willkommene Abwechslung von den üblichen Schlagzeilen über Krankheit, Korruption und Kriminalität, die zur Normalität in unseren Zeitungen geworden sind. Die Theorie eines Experten für Tierverhalten erregte meine Aufmerksamkeit. Ihr zufolge zeigte das Kalb keinerlei Angst. Genau das »verwirrte« die Löwin und sie konnte sich so verhalten, wie sie es tat.
Dieser Experte erklärte, dass der Angriff eines Löwen entweder durch Furcht oder Flucht des Opfers ausgelöst werden muss. Diese Beobachtung weckte eine Kindheitserinnerung in mir. Als ich als Schuljunge in einem kleinen Dorf lebte, gab es noch überall Leoparden und Hyänen im Busch, und sie konnten einem an einem ganz gewöhnlichen Tag über den Weg laufen. Ich erinnere mich an die strenge Warnung nie zu fliehen, wenn ich einen Leoparden oder irgendein anderes Raubtier sähe. Vielmehr sollte ich mutig und seelenruhig meiner Beschäftigung nachgehen.
Meine Mutter erzählte mir eine wunderbare Geschichte über mich als Baby, als ich, wie sie sagte, zu jung war, um zu wissen, ob ich vor Angst weglaufen oder mir vor Furcht heiß werden sollte. Sie erzählte, dass sie mich aufgrund ihrer Verpflichtungen auf der Farm immer in die Obhut meiner beiden älteren Schwestern gegeben hat. Selbst heute ist es in Afrika völlig normal, dass jungen Mädchen die Aufsicht über ihre Geschwister übertragen wird. Meine Mutter hatte keinerlei Bedenken wegen meiner Sicherheit und so ging sie zur Farm, die mehrere Kilometer vom Dorf entfernt lag.
Eine meiner Schwestern schnürte mich auf den Rücken und dann ging es los auf die Suche nach wilden Früchten. Nachdem sie einen guten Früchtebaum tief im innern des Waldes gefunden hatten, legten sie mich auf ein Blätterbett und kletterten auf den Baum. Stunden später, nach vielen Früchten und Spielen, bemerkten sie die Dämmerung und wussten, dass sie eigentlich schon zu Hause sein sollten. Also machten sie sich schnell auf den Weg und waren froh, dass unsere Mutter noch nicht da war.
Als sie dann heimkam und nach dem Baby fragte, sahen sich meine beiden Schwestern mit einer Mischung aus Grauen und Entsetzen an. Meine Mutter spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und fragte in scharfem Ton: »Wo ist das Baby?« Es war inzwischen dunkel geworden und Hyänen und andere Tiere der Nacht begannen gerade herumzustreifen. Die Suchaktion war schnell organisiert und meine Schwestern führten sie den ganzen Weg weinend zu der Stelle, von der sie dachten, dass sie mich dort gelassen hätten. Wie meine Mutter erzählte, fanden sie mich: ich war munter, weinte nicht und vermittelte den Eindruck, nicht die leiseste Sorge auf der Welt zu kennen.
Es ist wahr, dass Raubkatzen Babys lieben und kaum jemals eines angreifen würden. Babys haben nicht gelernt, sich vor großen Tieren zu fürchten. Raubkatzen haben dennoch ein sehr scharfes Wahrnehmungsvermögen und können vorgetäuschte Tapferkeit von der absoluten Abwesenheit von Furcht im Herzen unterscheiden. Ich denke, dass Furchtlosigkeit bei Erwachsenen nur durch das Wissen entstehen kann, dass Raubkatzen ebenfalls wundervolle Schöpfungen Gottes sind und nicht schaden können. Ein Kind vertraut instinktiv und liebt alles und jeden. Das ist die vollkommene Liebe, von der Johannes sagt, dass sie Furcht austreibt (1. Johannes 4:18).
Konnte es nicht dieselbe Art kindlicher Liebe und das Fehlen jenes Wissens, das Furcht hervorbringt, gewesen sein, das die Löwen in Daniel spürten? Was die Oryxantilope davor schützte, angegriffen zu werden? Und was mich als Kind beschützte?
Wie Mary Baker Eddy vor über einem Jahrhundert in Wissenschaft und Gesundheit schrieb: »Liebe ist unparteiisch und universal in ihrer Anwendbarkeit und in ihren Gaben.« (S. 13) Können wir die großartige, absolute Unschuld und das Vertrauen kennen, das ich als Baby im Wald hatte? Sogar im Angesicht der schlimmsten Gefahren des Lebens? Ich glaube, wir können: indem wir wissen, dass die Quelle dieser geistigen Qualitäten — die göttliche Liebe — alles Leben beinhaltet und erhält.
Sogar wenn meine Sonntagschüler über unser »lustiges« Bild mit Daniel lachen, werden sie sich doch immer der Wahrheit erinnern, die dahinter liegt.