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Maladien für Millionen

Angebliche Volkskrankheiten: Viele Zahlen über die Leiden der Deutschen sind ungenau oder einfach falsch

Aus der Februar 2006-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft

Süddeutschen Zeitung


Acht Millionen Deutsche sollen Diabetes haben, acht Millionen Migräne, fünf Millionen Arthrose, sieben Millionen Osteoporose, vier Millionen Asthma, vier Millionen Bluthochdruck und zehn Millionen sollen ihren Harn nicht halten können.

Eine Epidemie der Volkskrankheiten jagt durch die Medien. Wer wissen will, wie viele Menschen an welcher Krankheit leiden, gerät bei der Suche in Informationsbroschüren, Zeitschriften und im Internet rasch ins Staunen. »Man wundert sich, dass es in Deutschland überhaupt noch gesunde Menschen gibt«, sagt Stefan Wilm, Epidemiologe am Klinikum der Universität Düsseldorf. Die Bundesrepublik hat nicht einmal genug Einwohner, um all jene Menschen zu beherbergen, die angeblich an einer der über 30.000 bekannten Krankheiten leiden. Der Grund: »Es gibt kaum eine Krankheit, deren Häufigkeit wirklich gut untersucht ist«, sagt Stefan Wilm. Dennoch tun viele Ärzte so, als wüssten sie genau, wie viele Deutsche unter Karies, Nierensteinen oder Alzheimer leiden. Und wer Aufmerksamkeit will, greift gern zu besonders hohen Schätzungen.

Der Hang zu hohen Zahlen findet sich aber nicht nur bei der KBV. Viele Werbebroschüren, Infoblätter und Internetseiten jonglieren mit kaum fassbaren Zahlenungetümen – egal, ob sie von Pharmafirmen, Selbsthilfegruppen oder Ärztevereinigungen stammen. Schließlich springen auch Geldgeber und Medien eher bei einer Krankheit an, die viele Millionen betrifft.

Süddeutsche Zeitung

Dass Verbände, Firmen und Organisationen versuchen, Aufmerksamkeit für Krankheiten zu erzeugen, kann Christa Scheidt-Nave zwar verstehen: »Es gibt schon Stiefkinder der Versorgung wie inkontinenz, Arthrose oder Osteoporose, bei denen man eben nicht mit Schwerstkranken und Toten handeln kann«, sagt die Leiterin der Abteilung Epidemiologie nicht-übertragbarer Krankheiten am Robert-Koch-Institut. Dennoch sei es nicht akzeptabel, mit wissenschaftlich nicht belegten Daten zu arbeiten.

»Es gibt zwar viele Zahlen zur Häufigkeit von Krankheiten«, erläutert Jürgen Stausberg, Epidemiologe am Universitätsklinikum Essen. Sie lassen aber allenfalls dann verlässliche Aussagen zu, wenn sie in korrektem Zusammenhang dargestellt werden – wenn also klar ist, wie und an wem die Daten erhoben wurden. Die wenigsten Studien haben eine so gute Datengrundlage, dass sie sich auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen lassen«, sagt Christa Scheidt-Nave.

Eine unter Epidemiologen bekannte Masche, Krankenzahlen in die Höhe zu treiben, ist die Ausweitung der Definition einer Krankheit. Eine Erkrankung wird dann so weit gefasst, dass auch Personen als krank gelten, die gar nicht leiden. Die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung COPD gehört zu diesen ausgeweiteten Krankheiten, eine Kombination aus chronischer Bronchitis und Lungenemphysem. In der Berichterstattung über diese »vernachlässigte Volkskrankheit« (Die Zeit) kursieren Krankenzahlen zwischen drei und zehn Millionen Deutschen. »Beeindruckend hohe Zahlen werden zum Beispiel erreicht, indem man einfach alle Raucher mit eingeschränkter Lungenfunktion im Stadium Null in die COPD-Definition einschließt«, sagt Stefan Wilm.

Höher propagierte Zahlen führten zwar nicht automatisch dazu, dass mehr Medikamente oder Therapien verordnet werden. Aber sie beeinflussen Patienten wie Ärzte. »Wenn man ständig hört, dass eine Krankheit viel häufiger ist als bisher wahrgenommen, dann frisst sich das allmählich doch in das Gehirn der Menschen«, sagt Stefan Wilm. Und am Ende bekommen Patienten Medikamente und Therapien verschrieben, die sie früher nicht bekommen hätten.

Gekürzte Fassung
Mit freundlicher Genehmigung der
Süddeutschen Zeitung

Vollständiger Text siehe:
Süddeutsche Zeitung Nr. 276
vom 30. November 2005

Nachdrucke auf dieser Seite geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion des Christian Science Herold wieder.

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